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Die gestohlene Zeit

Die gestohlene Zeit

Titel: Die gestohlene Zeit
Autoren: Heike Eva Schmidt
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könnten ja abwarten, bis die Sonne untergeht, und es herausfinden. Aber ich glaube, dann bekommt Frau Müller einen Wutanfall«, witzelte ich, denn die Sportlehrerin joggte schon wieder mit drohender Miene zu ein paar Schülern, die herumgebummelt hatten und erneut den Anschluss an die Gruppe zu verlieren drohten.
    Spindler lachte leise. »Sie haben einen wachen Verstand, Emilia. Benutzen Sie ihn«, sagte er leichthin, ehe er sich nach einem runden Bergkiesel bückte und auf diese Weise ein Stück zurückblieb. Grübelnd ging ich weiter. Hatte Spindler meine Zweifel an der Wahl meines Studienfaches gespürt? Oder mir nur einen Ratschlag für das Leben im Allgemeinen geben wollen? Vielleicht trug er aber einfach seinen Spitznamen »Spinner« nicht umsonst, dachte ich achselzuckend. Wenig später hatte ich seine Worte schon wieder vergessen, denn unvermittelt drehte sich Udo, der vor mir hergelaufen war, um. Obwohl sein teures Polohemd durchgeschwitzt an seinem Rücken klebte und sein angestrengtes Keuchen dem
Star
-
Wars
-Bösewicht Darth Vader alle Ehre machte, war er noch in der Lage, einen dummen Spruch in meine Richtung abzufeuern. »Na,
Fräulein
Wiltenberg«, spottete er, »gibt’s für das Einschleimen bei einem Lehrer eine extragute Praktikumsbescheinigung – oder sonstige Vergünstigungen?« Damit zwinkerte er Frank vielsagend zu.
    Eine heiße Welle der Wut schoss in mir hoch, und ich musterte den unförmigen Schüler von oben bis unten. »Sag mal, Udo, bist du eigentlich in der fünften Klasse von der Baumschule aufs Gymnasium gewechselt?«, fragte ich im freundlichen Plauderton.
    »Hä, wieso?«, sprang Udo prompt darauf an.
    »Na ja, irgendwo müssen solche Gehirn-Bonsais wie du ja wachsen«, gab ich zur Antwort.
    Frank wieherte los, aber dann sah er Udos Miene und verstummte schlagartig. Im selben Moment hätte ich mich ohrfeigen können. Da war eindeutig mein Temperament mit mir durchgegangen. »Eine künftige Lehrerin macht keine solchen Sprüche, Emma! Das ist alles andere als erwachsen!«, hörte ich im Geiste Caros mahnende Stimme.
    Ich atmete tief durch und blickte Udo an. »Hör zu, wir machen einen Deal. Du benimmst dich einigermaßen zivilisiert und lässt die anderen Schüler in Ruhe – dann haben wir auch keinen Ärger mehr miteinander. Denk einfach mal darüber nach«, sagte ich und verkniff mir den Zusatz »wenn du kannst«. Stattdessen zog ich das Tempo an, um möglichst viel Abstand zwischen uns zu bringen.
     
    Nach zwei Stunden steilen Aufstiegs, angetrieben durch Frau Müller-Gnadenlos, riefen wir eine Pause mit Picknick aus. Alle Schüler ließen sich stöhnend auf die Erde fallen, wo kurzes, hartes Gras wuchs, das sich zwischen dem Geröll breitgemacht hatte und Wind und kalten Nächten trotzte. Ich setzte mich ein Stück abseits, halb hinter einem Felsvorsprung verborgen, an den ich mich bequem anlehnen konnte. Die Erde war sonnenwarm, und ein schwacher, würziger Duft lag in der Luft. Er stammte von den vielen Latschenkiefern, die buckligen Trollen ähnlich zwischen den Steinbrocken standen. Aufatmend kramte ich mein Käsebrot und eine Thermoskanne heißen Tee aus meinem Rucksack. Beides hatten wir in unserer Unterkunft als Verpflegung für unsere Tagestour bekommen, ehe wir um sieben Uhr morgens aufgebrochen waren. Als sich einige über die unchristliche Zeit beschwert hatten, hatte die Lehrerin nur gekontert: »Das Leben ist kein Wunschkonzert«, und damit jegliche Form des Protestes erstickt. Mir machten weder das frühe Aufstehen noch die anstrengende Wanderung etwas aus. Aber ich studierte ja auch Sport, da waren ein paar hundert Höhenmeter ein gutes Training, um in Form zu bleiben. Plötzlich hörte ich in unmittelbarer Nähe ein Geräusch, als würde man ein rohes Schnitzel zum Panieren auf den Tisch klatschen. Doch was sich da neben mich hatte fallen lassen, war Udo von Hassell, der ein fieses Grinsen zur Schau trug. Wenn man vom Teufel sprach … Neben ihm bezog Frank Stellung. »Sie haben wohl Hunger?«, fragte Udo, und ehe ich michs versah, hatte Frank mir das eingewickelte Käsebrot entrissen und wedelte damit spöttisch vor meiner Nase herum. Okay, dachte ich, die beiden benahmen sich wie 12 -Jährige – dann sollten die Verhältnisse wohl auch ein für alle Mal geklärt werden. Ich beschloss, sie mit ihren eigenen kindischen Waffen zu schlagen, und sah stattdessen knapp an seiner linken Schulter vorbei. »Oh schaut mal, ein Zwerg«, rief ich und versuchte,
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