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Die gestohlene Zeit

Die gestohlene Zeit

Titel: Die gestohlene Zeit
Autoren: Heike Eva Schmidt
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letzten Buchstaben auf die Windschutzscheibe des Schulleiterautos schäumte, war Frank. Natürlich bekam er den geballten Zorn des Direktors ab, samt Androhung von Konsequenzen. Außderdem machte er sich zum Gespött der ganzen Schule, weil er »sacks« statt »sucks« geschrieben hatte. Udo hielt sich aus der ganzen Sache fein raus und lachte sich ins Fäustchen, während sein Treuergebener nicht mal auf die Idee kam, sich zu beschweren.
    Insgeheim vermutete ich, dass sich keiner aus dem Jahrgang überhaupt traute, Udo mal die Meinung zu sagen. Nicht nur, weil er einen Kopf größer als die anderen und ungefähr doppelt so schwer war. Udo wohnte zudem in einer riesigen Villa mit Pool, und sein Vater holte ihn oft mit einem dicken schwarzen BMW vor der Schule ab. Ich hatte zwei Mädchen, Claudia und Sabine, darüber tuscheln hören. Sie beteten ihn sichtlich an, und seine Einladungen in den Partykeller seiner Eltern waren
das
Thema auf dem Schulausflug. Bei den von Hassells gab es angeblich eine richtige Bar, und offenbar schauten Udos Erzeuger nicht so genau hin, was daraus alles konsumiert wurde.
    Im Moment war allerdings von Partystimmung nichts zu merken. Die Schüler ließen sich schwitzend für eine kurze Pause ins Gras fallen, und ich genoss es, dass sie mal die Klappe hielten, auch wenn das sicher nur von kurzer Dauer war. Das Latemar-Gebiet in den Dolomiten galt als äußerst sehenswert, war aber auch für seine anstrengenden Touren berüchtigt. Unwillkürlich wanderte mein Blick an der hellgrauen Felsnase empor, die karg und abweisend vor uns aufragte. Vor meinem geistigen Auge entstand das Bild, wie über der schroffen Bergkette orangegolden die Sonne unterging und in ihrem Licht inmitten des schorfigen Gerölls die verzauberten Rosen für wenige Minuten ihre Blütenblätter entfalteten. Während der Zwergenkönig in seinem unterirdischen Palast saß und um seine verlorene Liebe zur schönen Similde trauerte …
    »Klar, dort wächst ein Rosengarten – und Elvis lebt«, hörte ich in diesem Moment Udo hämisch zu Frank sagen, der daraufhin in sein albernes »Hiah-Hiah«-Gelächter ausbrach, das sich anhörte, als würde ein Esel halb zu Tode gekitzelt. Claudia und Sabine kicherten ebenfalls schrill los, wobei Claudia Udo einen schmachtenden Blick zuwarf und ihre Freundin mit dem Ellbogen in die Seite stieß.
    Ich verdrehte im Geiste die Augen und dachte, dass ich schon in der Grundschule genügend Verstand gehabt hatte, um solchen Typen wie Udo aus dem Weg zu gehen. Er war zu niemandem nett, nicht einmal zu den Mädchen. Im Gegenteil, er machte sie oft genug zur Zielscheibe seiner fiesen Sprüche.
    Eine seiner Mitschülerinnen, die sich für die Umwelt engagierte, hatte er gestern beim Frühstück scheinheilig auf ihre neuen Klamotten angesprochen. Das Mädchen hatte tatsächlich im ersten Moment gelächelt, bis Udo hämisch, und so laut, dass es alle hören konnten, hinzugefügt hatte: »Ich wusste gar nicht, dass der Altkleidercontainer Sachen in deiner Größe führt.« Dem Mädchen waren die Gesichtszüge entgleist, und sie war aus dem Frühstücksraum gelaufen, wahrscheinlich damit niemand ihre Tränen sah. Geschickterweise hatte Udo genau den Moment abgepasst, als die beiden Lehrer schon draußen waren und daher kein Erwachsener mehr im Raum war – außer mir.
    »Okay, das reicht, Udo«, hatte ich möglichst ruhig gesagt, während Frank sich hastig die Hand vor den Mund hielt, um sein wieherndes Gelächter, mit dem er Udos gemeine Bemerkung kommentiert hatte, zu unterdrücken. »Noch so ein Spruch, und ich sorge dafür, dass euch beiden das Lachen vergeht«, drohte ich und nahm Frank und Udo scharf ins Visier.
    »Ach nee, wer spielt sich denn hier auf? So eine mickrige Studententussi, die hier nichts zu melden hat?«, provozierte der massige Junge und maß mich mit einem verächtlichen Blick.
    »Die ›mickrige Studententussi‹ wird dir gleich Feuer unter deinem nicht gerade kleinen Hintern machen, wenn du nicht spurst«, gab ich eisig zurück, und Udo riss erstaunt die Augen auf. In den vergangenen Tagen hatte ich mich ziemlich zurückgehalten. Den Schülern Anweisungen zu erteilen, überließ ich lieber den Lehrern. Bis jetzt.
    »Ich behalte dich im Auge, Udo. Und wenn ich noch einmal so einen Kommentar von dir zu irgendjemandem höre, ist für dich die Kursfahrt schneller beendet, als du ›Disziplinarstrafe‹ sagen kannst«, drohte ich und starrte ihm in seine leicht vorstehenden,
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