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Die gestohlene Zeit

Die gestohlene Zeit

Titel: Die gestohlene Zeit
Autoren: Heike Eva Schmidt
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tranken, von dem aus man auf eine schmale Straße mit vielen Bäumen sehen konnte. Und am Wochenende würde ich für uns kochen, weil Caro sich eher durch den Verzehr von Nahrung und weniger durch die gekonnte Zubereitung auszeichnete. Sie nannte das »eine perfekte Ergänzung«. Zum Ausgleich bemutterte sie mich immer etwas und trug mir gerne mal ein Buch oder meinen Zimmerschlüssel nach, wenn ich mal wieder verschlafen hatte und in meinem morgendlichen Chaos zu versinken drohte. Ich bewunderte sie für ihre Disziplin und beneidete sie heimlich, weil sie genau wusste, was sie wollte – im Gegensatz zu mir. Während Caro sich mit ihrem Abiturschnitt von 1 , 3 voller Begeisterung für das Studium der Pharmazie eingeschrieben hatte, war ich froh gewesen, dass vor meiner Abi-Note noch eine Zwei gestanden hatte. Und auch im dritten Semester wusste ich immer noch nicht, ob Lehramt mit den Hauptfächern Sport und Geschichte tatsächlich das Richtige für mich war. Andererseits hatte ich auch keine Idee, was ich sonst tun wollte. Besser gesagt, ich traute mich nicht, meinen geheimsten Wunsch in die Tat umzusetzen: Seit ich das erste Mal entdeckt hatte, wie man einen Backofen bedient, träumte ich nämlich von einem eigenen Café mit hohen Fenstern, weißlackierten Stühlen, auf denen bunte Kissen lagen, und selbstgebackenen Köstlichkeiten hinter einer gläsernen Theke. Das höchste Glück war für mich der Moment, wenn ich die Ofentür öffnete und den Duft von frisch gebackenen Kuchen oder Keksen roch, der mit dem ersten Schwall heißer Luft herausströmte. Ich liebte es, die Aromen von Schokolade, Vanille oder Zitrone zu schnuppern und das Gefühl, geschlagene Sahne auf einem Kuchen zu verstreichen. Am liebsten hätte ich den ganzen Tag in der Küche gestanden.
    Stattdessen paukte ich in den nüchternen Vorlesungssälen der Universität Pädagogik, Sporttheorie sowie Didaktik für Gymnasium und jobbte nebenher als Bedienung in einem Ausflugslokal. Am Backblech tobte ich mich nur in der winzigen Etagenküche unseres Studentenwohnheims aus. Caro war das Versuchskaninchen für meine neuesten Kreationen. Ein überaus begeistertes Versuchskaninchen, denn als ich ihr jetzt auffordernd einen Teller mit selbstgebackenen Mandel-Krokant-Keksen hinhielt, ließ sie sich nicht zweimal bitten. Die Windpocken mochten teuflisch jucken, ihren Appetit konnten sie jedoch nicht schmälern. Sofort steckte sie sich eines der noch warmen Gebäckstücke in den Mund. Hätte ich meine Freundin nicht so gut gekannt, wäre ich über ihre verdrehten Augen erschrocken. So aber wusste ich: Caro befand sich in höchster Keksekstase.
    »Mann, Emmi«, mümmelte sie und leckte sich auch noch die letzten Mikrobrösel von den Fingern, »das ist der Wahnsinn! Dafür müsstest du echt einen Preis kriegen. Das goldene Krümelmonster oder so.«
    Ich grinste geschmeichelt, als Caro ernst fortfuhr: »Wieso gehst du überhaupt als Betreuerin mit zu dieser Kursfahrt, wenn du noch gar nicht weißt, ob du wirklich Lehrerin werden willst?« Forschend sah sie mich an.
    Ich zuckte leicht zusammen. Wir kannten uns einfach zu gut, und vor ihr konnte ich mich nicht verstellen.
    »Ach, weißt du, ich mache doch sowieso das Praktikum am Heinrich-Heine-Gymnasium. Und nachdem vor ein paar Tagen die Referendarin krank geworden ist, die eigentlich mit auf diese Kursfahrt gehen sollte, konnte ich Herrn Spindler, der ein wirklich guter Tutor ist, die Bitte nicht abschlagen, ob ich nicht einspringen könne«, erklärte ich und fügte hinzu: »Das wird bestimmt toll. Ich wollte schon immer mal in den Dolomiten wandern!«
    »Klar«, gab Caro trocken zurück, »mit drei Dutzend renitenten Zwölftklässlern wird das sicher
toll …
«
    »Ach, ich scheuche sie einfach die Gipfel hoch, bis sie keine Luft mehr für blöde Sprüche haben«, gab ich mich cool, aber natürlich war mir selbst mulmig bei dem Gedanken, dass ich als Aufsichtsperson nur drei Jahre älter als meine Schützlinge war. Zum Glück lag die Hauptverantwortung bei den beiden Lehrern, die die Fahrt organisiert hatten.
    Aber Caro ließ nicht locker. »Bist du dir sicher, dass das Studium das Richtige für dich ist? Ich meine, du bist bestimmt bei den Schülern beliebt. Aber ich kann mir irgendwie nicht vorstellen, wie du mit Hornbrille und im grauen Kostüm vor einer Klasse stehst«, erklärte sie. Ich spürte ein kurzes Ziehen im Magen. Caro hatte mal wieder ins Schwarze getroffen.
    »Tue ich auch nicht! Meine Augen
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