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Die gestohlene Zeit

Die gestohlene Zeit

Titel: Die gestohlene Zeit
Autoren: Heike Eva Schmidt
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sonst würden wir hier ewig stehen, starr und unbeweglich wie der graue Fels.
    »Boah, ihr seid solche Memmen«, zerriss Udos Stimme das Schweigen. »Wir sind zu dritt! Los, wir umzingeln das Ding, und dann schnappen wir es uns!« Mit wenigen Schritten war er bei dem Findling und umrundete ihn. Während ich mich noch insgeheim über meine eigene Feigheit ärgerte, geschahen mehrere Dinge gleichzeitig. Hinter dem Findling schoss etwas hervor, das aussah wie eine kindergroße Kartoffel auf zwei Beinen. Gleichzeitig hörte ich Udos überraschten Aufschrei und sah, dass er sich mit schmerzverzerrtem Gesicht das Schienbein rieb. Ehe sich das trappelnde Geräusch hastiger Schritte entfernte, erhaschte ich noch einen flüchtigen Blick auf zwei kohlschwarze, wütend funkelnde Augen in einem Gesicht, das einer braunen Dörrpflaume glich und aus einer Art schmutzigem Kittel ragte. Dann war das Wesen, um was auch immer es sich gehandelt haben mochte, verschwunden.
    Udo hielt sich derweil stöhnend sein Schienbein. »Mann, tut das weh. Hatte das Ding Spikes an seinen Schuhen oder was?«, jammerte er.
    »Seit wann spielen Zwerge Fußball?«, erwiderte ich kühl. Udo tat mir kein bisschen leid. Mit seinen Waden, bei denen jeder junge Elefant vor Neid erblassen würde, hatte ihm der Tritt sicher nicht halb so viel ausgemacht, wie er vorgab. Allerdings:
Was
genau hatte Udo attackiert? Ein Murmeltier, das auf zwei Beinen lief und Fußkicks verteilte, kam ja wohl nicht in Frage. Mit etwa einem Meter Körpergröße hätte es sich tatsächlich um ein Kind handeln können, aber dafür war der Kopf zu groß und das Gesicht zu faltig gewesen. Aber ein alter Mann hatte keine solch kleine Statur, außer es war … ein Zwerg.
    Ich drehte mich mit meinen Überlegungen im Kreis. Mein Blick schweifte über das Gras, das die Füße des Flüchtenden platt getreten hatten. Plötzlich sah ich zwischen den gelbbraunen Grasstoppeln etwas aufblitzen, ein kurzes Funkeln wie von einer Sternschnuppe. Neugierig trat ich näher und ging in die Hocke.
    Unwillkürlich hielt ich die Luft an. Dort lag ein Ring aus Gold, gekrönt von einem grünen Stein. Behutsam hob ich den Schmuck auf. Er war schlicht, aber kunstvoll gearbeitet. Haarfeine Goldstränge waren ineinander verflochten und bildeten einen vollendeten Kreis. Der tiefgrüne Edelstein glühte in einem intensiven Smaragdfeuer, als lodere in seinem Inneren eine kleine Flamme. Staunend betrachtete ich die Kostbarkeit. Gehörte es dem kleinen Wesen, das so panisch vor uns geflohen war? Ein seltsamer Zauber ging von dem Schmuckstück aus.
    Fast hatte ich das Gefühl, der Ring würde mit mir sprechen. »Behalte mich, steck mich an deinen Finger. Durch mich wirst du dich kostbar und mächtig fühlen …«, schien er mir zuzuraunen. Ich schüttelte den Kopf, um dieses komische Stimmchen in meinem Kopf zu vertreiben. Bestimmt hatte ich es mir nur eingebildet. Natürlich gefiel mir mein Fund. Schließlich hatte ich in meinem ganzen Leben noch keinen so edlen und schönen Goldschmuck besessen. Doch er gehörte mir nicht, und ich hatte kein Recht, ihn zu behalten.
    »He, was haben Sie denn da?« Udos massiger Schatten fiel über mich, und ehe ich mich aufrichten oder meinen Fund vor ihm verbergen konnte, hatte er den Ring bereits gesehen.
    »Zeigen Sie mal her«, forderte er, während Frank ihm wie ein neugieriges Eichhörnchen über die Schulter lugte. Mir gefiel weder Udos Befehlston noch das Glitzern in seinen Augen, als er den Goldschmuck betrachtete. Statt seiner Aufforderung nachzukommen, schloss ich meine Faust darum. »Das ist ein Ring, den jemand verloren hat«, sagte ich betont ruhig. »Ich gebe ihn später bei den Lehrern oder der Polizei im Ort ab. Vielleicht meldet sich ja der Besitzer.« Mit diesen Worten wollte ich mich abwenden, aber Udo packte mich grob am Handgelenk und hielt mich fest. »Sag mal, geht’s noch? Lass mich los!«, rief ich, hatte jedoch gegen seinen eisernen Griff keine Chance. Es war, als befände sich meine Hand in einem Schraubstock. Udo schien vergessen zu haben, dass er der Schüler und ich seine Betreuerin war. Sein Blick war starr auf meine Faust mit dem Ring darin gerichtet.
     
    Im selben Moment fiel mir noch etwas auf. Wir standen mutterseelenallein zwischen den Geröllbrocken. Vom Rest der Gruppe und den Lehrern keine Spur. Ich versuchte, meinen Arm aus Udos Umklammerung zu lösen, doch er packte noch fester zu und bog mit seiner anderen Hand grob meine Finger
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