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Die gestohlene Zeit

Die gestohlene Zeit

Titel: Die gestohlene Zeit
Autoren: Heike Eva Schmidt
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Wunder gleich«, erklärt er strahlend.
    Ich nicke. »Ohne Caro hätten wir das nicht geschafft«, sage ich, und ein warmes Gefühl der Dankbarkeit für meine noch immer liebste Freundin durchströmt mich.
     
    Am Abend nach Herrn Spindlers Beerdigung brachen Caro und ich zu dem kleinen See auf, an den wir schon als Schülerinnen und später im Studium immer gefahren waren, wenn wir Stress, Kummer oder einfach den Alltagskram einmal hinter uns lassen wollten. Meistens hatten wir eine Flasche billigen Rotwein im Fahrradkorb dabei, aus der wir tranken, während aus Caros batteriebetriebenem Kassettenrekorder Falco oder – wenn ich sie überreden konnte – »Heroes« von Bowie gedröhnt hatte, dem einzigen Song von ihm, der in Caros Ohren Gnade fand. »Wir können Helden sein – nur für einen Tag«, hieß es in einer Liedzeile, und genauso hatten wir beide uns damals gefühlt.
    In Erinnerungen versunken blickte ich über das Wasser des Sees, der so still und friedlich dalag, als seien Caro und ich erst gestern zusammen hier gewesen – zwei gleichaltrige Mädchen, deren ganzes Leben noch vor ihnen lag.
    Als ich mich umdrehte, sah ich zu meiner Verblüffung, wie meine Freundin eine bauchige Flasche unter dem Autositz hervorzog, die zur Hälfte mit Bast umwickelt war. »Meine Güte, die ist aber nicht von 1987 , oder?«, rutschte mir heraus. Caros Lachfältchen vertieften sich, und sie schüttelte den Kopf. Dann beugte sie sich noch einmal ins Wageninnere, und gleich darauf ertönte »Heroes« von David Bowie.
    »Woher hast du …«, fing ich an und Caro lachte. »Es gibt inzwischen iPod-Anschlüsse fürs Auto«, sagte sie und packte mich an der Hand, um mich mit sich zum Ufer zu ziehen. Wir ließen uns auf den schmalen Sandstreifen fallen und schauten dem aufziehenden Abend zu, der seine Farben ausgepackt hatte und großzügig grüne, blaue und rosafarbene Streifen über den Himmel malte. Die kleinen Wellen schwappten leise glucksend ans Ufer, und ich war einfach nur glücklich, all das erleben zu dürfen, statt als Gefangene in einer dunklen Felsenhöhle, jenseits von aller Menschenzeit, dahinzuvegetieren.
    Als ich Caro nach unserem Wiedersehen von meinen Erlebnissen erzählt hatte, hatte sie stumm und wie betäubt in ihrem Sessel gesessen und einfach nur gelauscht, bis ich zu der Stelle kam, als ich vor ihrem Haus gestanden und ihre Tochter Lilly kennengelernt hatte. Den Rest der Geschichte kannte Caro von ihrer Tochter. Als sie nach einer Weile immer noch nichts gesagt hatte, breitete sich in meinem Magen ein mulmiges Gefühl aus. Doch dann war sie aufgestanden, hatte mich in die Arme genommen und leise gesagt: »Ich glaube dir.«
     
    Caro riss mich aus meinen Gedanken, indem sie Wein in zwei Pappbecher goss, der so rot war wie die Rosenblätter im verzauberten Garten. »Auf uns – und die Zukunft«, sagte sie und hielt mir einen Becher hin. Feierlich stießen wir miteinander an. Nach dem ersten Schluck verzog Caro das Gesicht. »Schmeckt wie damals«, stellte ich fest.
    »Ja – leider«, erwiderte sie, und wir brachen beide in Gelächter aus.
    »Ich bin so froh, dass ich dich wiederhabe«, sagte ich leise zu Caro. Statt einer Antwort drückte sie nur stumm meine Hand. »Was habt ihr jetzt vor, Jonathan und du?«, fragte sie nach einer Weile.
    Ich zuckte mit den Schultern. »Leben«, sagte ich einfach. Caro nickte. »Liegt ja noch alles vor euch«, antwortete sie, und ihr Lächeln war liebevoll und wehmütig zugleich.
    »Allerdings habe ich keine Ahnung, wie wir an einen gültigen Pass kommen sollen«, meinte ich nach einer Weile. »Ich meine, ich kann schlecht ins Einwohnermeldeamt marschieren und sagen: ›Hallo, mein Name ist Emilia Wiltenberg, ich bin 1966 geboren, aber trotzdem erst einundzwanzig Jahre alt. Hätten Sie vielleicht einen neuen Personalausweis für mich?‹ Ganz zu schweigen, wie ich denen erklären soll, dass Jonathan noch mal zwei Jahrhunderte älter ist …!«
    Caro blickte schweigend in die Ferne. Ich kannte diesen Gesichtsausdruck: Sie dachte scharf nach.
    »Vor einem Jahr habe ich in einem Biergarten miterlebt, wie ein Gast von einer Wespe gestochen wurde«, sagte sie plötzlich. »Sie war in seinen Krug geflogen, und er hat es nicht gesehen und daraus getrunken. Er wurde innen in den Hals gestochen und erlitt einen allergischen Schock. Innerhalb von Sekunden war seine Kehle vollständig zugeschwollen, und er bekam keine Luft mehr.«
    Ich hörte ihr einfach zu, obwohl ich keine
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