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Die gestohlene Zeit

Die gestohlene Zeit

Titel: Die gestohlene Zeit
Autoren: Heike Eva Schmidt
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versetzten ihm einen Hieb in die Rippen, der ihn zu Boden gehen ließen. Sein Handy flog ihm aus der Hand und schlitterte durchs Gras, bevor es irgendwo zwischen den Felsen verschwand.
    »Auf das Betreten des Rosengartens steht der Tod«, zischte der Zwerg, der zuerst gesprochen hatte. Die beiden anderen packten ihn unter den Armen und stellten ihn grob wieder auf die Füße, während der Sprecher einmal um ihn herumging und ihn prüfend musterte, während er sich übers Kinn strich.
    »Aber du hast Glück«, verkündete er schließlich. »Unser König braucht einen neuen Koch!«
    ***
     
    Völlig erschöpft erreichten wir am späten Nachmittag Lillys Zuhause. Nachdem wir nacheinander und ausgiebig geduscht hatten, ließen wir uns aufatmend auf der Terrasse in ein paar Gartenstühle fallen. Es war schön, wieder in Caros Haus zu sein. Noch schöner war es, keine Angst mehr haben zu müssen. Auch wenn der Preis dafür Udos Tod gewesen war. Zwar hatte Frank wahrscheinlich überlebt, von ihm ging aber keine Gefahr mehr aus, dessen war ich mir ganz sicher.
    Nur schade, dass Herr Spindler nichts mehr von Jonathans und meinem ganz persönlichen Happy End erfahren würde, dachte ich, und für einen Augenblick legte sich ein dunkler Schatten der Trauer über den sonnigen Nachmittag. Da spürte ich Jonathans Hand in meiner.
    »Bist du traurig?«, fragte er. Ich zuckte leicht mit den Schultern.
    »Ich musste gerade an Herrn Spindler denken«, sagte ich. »Er hätte sich sicher gefreut, uns alle hier zu sehen – glücklich und frei von sämtlichen Flüchen!«
    Jonathan sah mich liebevoll an. »Vielleicht sieht er uns ja dennoch, dort, wo er jetzt ist«, sagte er.
    Ich lächelte ihn an, und er streichelte zärtlich meine Wange. Ein merkwürdig gurgelndes Geräusch unterbrach die romantische Stimmung. »Sorry«, murmelte Lilly und presste verlegen beide Hände auf ihren knurrenden Magen.
    »Habt ihr Hunger?«, wollte ich wissen. »Dann koche ich uns was«.
    »Mann«, seufzte Lilly, »ich dachte schon, du würdest nie fragen!«
    Ich lachte und war eben im Begriff aufzustehen, als es stürmisch an der Haustür klingelte. Unwillkürlich zuckten wir zusammen. »Wer kann das sein?«, fragte ich.
    »Keine Ahnung«, behauptete Lilly. »Meine Eltern wohl kaum. Die wollten erst am Samstag kommen.«
    Jonathan und ich sahen uns an. »Ähm, Lilly? Heute ist Samstag«, sagte ich, da ertönte eine Stimme, die mir so vertraut war, dass es mich förmlich aus meinem Stuhl riss.
    »Lilly?«, rief Caro. »Schatz, bist du zu Hause?«
    »Ma!«, schrie Lilly und stürmte durch die Terrassentür und in den Flur.
    Ich blieb regungslos stehen. Auf einmal hatte ich schreckliche Angst vor dem Wiedersehen mit Caro. Wie würde sie wohl auf mein plötzliches Auftauchen reagieren? Und würde ich meine beste Freundin von damals überhaupt noch erkennen? Was, wenn wir nach so langer Zeit zwei völlig Fremde füreinander waren?
    Aus dem Flur drang die sonore Stimme eines Mannes, die wohl Caros Ehemann gehörte. Den schmatzenden Geräuschen und Lillys lachendem Protestgeschrei nach zu urteilen, küsste Caro ihre Tochter gerade stürmisch ab.
    »Jetzt erzähl schon, was hast du gemacht, so ganz alleine?«
    »Ma, hör mal, ich muss dir was sagen …«, fing Lilly an, und ich hörte Caro seufzen.
    »Okay, was ist kaputt, und wie viel wird es uns kosten?«, fragte sie, und unwillkürlich musste ich lachen. Das war Caros typisch-trockener Humor, den ich so gut kannte. Auf einmal waren meine Ängste und Zweifel verschwunden, und jetzt konnte ich es nicht mehr erwarten, meine beste Freundin nach so langer Zeit endlich wiederzusehen. Ich lief in den Flur.
    Lilly sagte gerade: »Bitte krieg jetzt keinen Herzinfarkt, aber du hast Besuch …«, als ich um die Ecke schlitterte und direkt vor Caro zum Stehen kam. Sekundenlang blickten wir uns wortlos an. Natürlich war sie älter geworden, aber mir erschien es, als hätte jemand einfach eine Art durchsichtige Folie der Caro von heute über ein Foto der Caro von damals gelegt. Ihre Gesichtszüge waren mir immer noch vertraut, und die vergangenen siebenundzwanzig Jahre schrumpften zu einem einzigen kurzen Tag, den wir uns nicht gesehen hatten.
    »Emmi?«, brachte Caro schließlich heraus. Ich nickte nur, sprechen war in diesem Moment unmöglich. Ein dicker, heißer Kloß aus Glück, Trauer und Wiedersehensfreude verstopfte mir die Kehle, und ein Tränenschleier ließ alles vor meinen Augen verschwimmen.
    »Mein Gott«,
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