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Die gestohlene Zeit

Die gestohlene Zeit

Titel: Die gestohlene Zeit
Autoren: Heike Eva Schmidt
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oder uns beide tatsächlich umzubringen. Doch ich hielt seinem Blick stand. Ich spürte instinktiv, dass der Zauber gebrochen war. Der Herrscher über das Zwergenvolk konnte uns nichts mehr anhaben. Und er wusste das.
    Abrupt drehte er sich um, und mit einem finalen Wutschrei fuhr er in unheimlicher Geschwindigkeit in den Schacht, der den Eingang zu seinem felsigen Reich markierte. Mit ihm verschwanden seine Spießgesellen, als wäre alles nur ein böser Traum gewesen.
     
    Sekundenlang verharrten Jonathan und ich unter dem blaugrauen Abendhimmel, an dem inzwischen ein bleicher Vollmond hing. Dann aber löste sich meine Erstarrung, und mir fiel ein, dass noch jemand auf uns wartete. »Wir müssen Lilly holen, sie macht sich sicher schreckliche Sorgen«, rief ich. Hastig lief ich los, Jonathan hinterher.
    Ein kleines, verheultes Etwas erwartete uns in der Felsenhöhle. Bei unserem Anblick brachte Lilly zuerst nur eine Art Piepsen heraus. Dann aber schoss sie auf uns zu. »Jonathan! Du bist kein Rabe mehr!«, schrie sie.
    »Ja – und er wird auch nie wieder einer werden. Genauso wenig wie ich eine Katze«, sagte ich, ehe ich unter dem Ansturm von Lillys Umarmung fast zu Boden ging. Sie klammerte sich wie ein Affenbaby an mich und Jonathan, als wolle sie uns nie mehr loslassen.
    »Alles ist gut, Lilly«, versicherte ich.
    »Emma, sieh nur«, rief Jonathan da. Ich drehte mich zu ihm um. Er hatte den Ärmel seines Pullis hochgezogen und starrte auf seinen Unterarm.
    »Was ist denn?«, fragte ich, doch da sah ich es selbst: Das glühend rote Mal, das Laurin ihm als ewige Strafe in die Haut eingebrannt hatte, war verschwunden. Nur wenn man ganz genau hinsah, konnte man sehr schwach eine kreisrunde Stelle ausmachen, vielleicht eine Nuance dunkler als die übrige Haut.
    Hastig zerrte ich am Kragen meines Kapuzenshirts und schielte auf meine Schulter, wo sich die Rötung in Form einer Katzenpfote befunden hatte. Sie war fort.
    »Es ist vorbei«, sagte Jonathan, und endlich schmolz in meiner Brust der letzte eisige Klumpen der Angst.
     
    Wir verbrachten die letzten Stunden der Nacht geschützt hinter einem großen Findling. Sobald der erste blaugraue Streifen der Morgendämmerung sich am Himmel zeigte, liefen wir los, hinunter ins Tal. Als die ersten Strahlen der Morgenröte aufleuchteten, hatten wir schon ein gutes Stück Weg zurückgelegt. Oben auf dem Gipfel würde nun für wenige Augenblicke Laurins Rosengarten erblühen, doch keiner von uns blickte zurück.
    Noch ehe die Sonne im Zenit stand, erreichten wir den Parkplatz. Kurz darauf zerschnitt ein Brummen die Stille, und ein Auto tauchte auf. Der Fahrer kam mir bekannt vor, und ihm schien es genauso zu gehen, denn er kurbelte das Fenster herunter und sah mich stirnrunzelnd an. »Dich habe ich doch gestern mit hoch zum Lift genommen«, sagte er.
    Der junge Förster!, fiel mir ein. Ich nickte und lächelte. »Und jetzt wäre ich dir sehr dankbar, wenn du uns mit ins Dorf nehmen würdest«, erwiderte ich. Sein Blick fiel auf meine Begleiter.
    »Ihr habt euch wohl gestern auf einer Berghütte kennengelernt, was?«, wollte der Förster wissen.
    »Nein«, sagte ich und lächelte Jonathan und Lilly an – die beiden Menschen, die mir außer Caro am meisten auf der Welt bedeuteten. »Sie gehören zu meiner Familie.«

[home]
    Kapitel 25
    F rank war stundenlang durchs Gebirge geirrt, wobei er das Gefühl nicht loswurde, ständig im Kreis zu laufen. Bis er endlich einen verfallenen Viehunterstand gefunden und die Nacht halb bewusstlos vor Schmerzen darin verbracht hatte. Die Wände, obwohl aus groben Rundhölzern gezimmert, konnten den Wind zumindest ein wenig abhalten, und in einer Raufe war ein Rest trockenes Heu, das ihn einigermaßen vor der Nachtkälte geschützt hatte. Doch sein verletztes Auge und die geschwollene Hand waren eine Tortur. Außerdem quälten ihn ständig die schrecklichsten Bilder. Immer wieder sah er Udo vor sich, der in Zeitlupe hinterrücks über die Kante des Abhangs stürzte. Sein Todesschrei würde Frank bis an sein Lebensende verfolgen. Und wofür? Der magische Ring war auf ewig verloren, und schuld war nur diese verdammte Emma. Wäre sie nicht nach fast dreißig Jahren wieder aufgetaucht, wäre das alles nicht passiert, redete er sich ein. Und er läge nicht irgendwo in den Bergen, blutend und halb blind, weil dieser mörderische Vogel ihm ein Auge ausgehackt hatte.
    »Es ist nicht Emmas Schuld, sondern deine. Du bist ein Killer, Frank«,
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