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Die gestohlene Zeit

Die gestohlene Zeit

Titel: Die gestohlene Zeit
Autoren: Heike Eva Schmidt
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flüsterte Caro. »Ich habe immer gewusst, dass du lebst!«
    »Und ich habe immer gewusst, dass du mich nie aufgegeben hast«, sagte ich erstickt. Dann fielen wir uns in die Arme. Endlich hatten wir uns wieder. Meine Wange lag an Caros, und unsere Tränen vermischten sich miteinander.
    »Komm, Papa, ich erkläre dir alles. Das ist übrigens Jonathan, Emmas Freund«, hörte ich Lilly flüstern, und dann entfernten sich leise Schritte. Ich war mit Caro alleine. Und wir würden uns eine Menge zu erzählen haben.

[home]
    Epilog: ein halbes Jahr später
    D raußen fällt der erste Schnee. Ich stehe am Fenster und sehe den dicken, weißen Flocken zu, die in einem lautlosen Tanz zur Erde schweben. Das Efeu vor unserem Haus hat sein sattes Grün eingebüßt und trägt nun ein Winterkleid in einem dunklen Blaugrün.
    »Unser Haus« klang lange Zeit ungewohnt in meinen Ohren. Es hat eine Weile gedauert, bis ich mich hier eingelebt hatte, denn für mich war es immer noch das Zuhause von Herrn Spindler. Doch jetzt gehört es Jonathan und mir. So hat es mein ehemaliger Tutor in seinem Testament verfügt. Er muss es aufgesetzt haben, kurz bevor er starb. War es seine gewohnte Gründlichkeit, alle Dinge gleich zu regeln, oder ahnte der alte Mann, dass er nicht mehr lange bei uns sein würde? Ich weiß es nicht.
    Bei seiner Beerdigung standen Caro, Lilly, Jonathan und ich Arm in Arm vor dem ausgehobenen Grab. Es war ein warmer Augustmorgen, und keine einzige Wolke stand am klarblauen Himmel. Eigentlich hätte es ein Tag sein sollen, an dem die Menschen fröhlich waren und den Sommer feierten. Doch für uns fiel ein Schatten auf ihn, weil ein Mensch, den wir alle ins Herz geschlossen hatten, die Sonne nie mehr sehen würde. Caro drückte mich an sich, und wie so oft in den vergangenen Tagen schien es, als wären wir beide keinen Tag getrennt gewesen.
    Jeder von uns nahm auf seine Weise von dem gütigen, alten Mann Abschied. Caro hatte einen alten Kassettenrekorder aufgetrieben und ließ eine Aufnahme von Mozarts »Requiem« erklingen. Lilly trug ein Gedicht vor. Jonathan warf eine schwarze Rabenfeder, die wir im Gebirge gefunden hatten, ins Grab und ich einen Strauß tiefdunkler, roter Rosen. Es war meine Art, Herrn Spindler adieu zu sagen und ihm für alles zu danken, was er für mich und Jonathan getan hatte.
    Die Testamentseröffnung war trotzdem ein Schock für mich – wenn auch ein freudiger. Ich war dem alten Herrn unendlich dankbar, weil er uns eine neue Heimat gab, auch wenn er selbst nicht mehr da war. Caro, ihr Mann Florian und Lilly halfen uns beim Streichen der Wände und spendierten das eine oder andere Möbelstück.
    Trotzdem hielten Jonathan und ich uns im Sommer vorzugsweise im Garten auf, denn wir hatten eine merkwürdige Scheu, das Haus als unseren Besitz zu betrachten.
    Doch dann wehten die stürmischen Oktoberböen den Sommer davon und trieben uns nach drinnen. Nachdem der Herbst endgültig mit bunten Blättern, fallenden Kastanien und am Himmel taumelnden Drachen Einzug gehalten hatte und wir das erste Mal den Kamin anfeuerten, wurde uns nicht nur wegen der tanzenden Flammen hinter der Ofentür warm ums Herz. »Unser Haus« kam mir auf einmal leicht über die Lippen, und da wusste ich, dass wir angekommen waren: im dritten Jahrtausend und in unserem neuen Heim.
     
    Jetzt sehe ich eine hochgewachsene Gestalt, die sich durch das Schneegestöber zur Haustür kämpft. Ohne seine dicke Winterjacke auszuziehen, kommt Jonathan zu mir ins Zimmer und küsst mich. Dann hebt er mich hoch und wirbelt mich übermütig einmal im Kreis. »He, mir wird schwindlig«, protestiere ich lachend. »Was ist denn los?«
    Statt einer Antwort zieht er feierlich etwas Weinrotes, Rechteckiges aus der Tasche.
    »Mein Pass«, sagt er, und ich kann seiner Stimme anhören, dass er es selbst noch nicht glauben kann. Andächtig klappt er das Dokument auf und studiert es sorgfältig. Ich greife nach demselben Heftchen, das ich heute auf dem Rückweg von dem Treffen mit Caro abgeholt habe, und halte es daneben. Wie in einen Spiegel blicken wir in unsere Gesichter auf den Fotos.
    Nur an mein neues Geburtsdatum muss ich mich gewöhnen.
    » 1993 « ist für mich immer noch nicht Vergangenheit, sondern irgendeine Jahreszahl, weder Gegenwart noch Zukunft, da ich die Jahre zwischen 1987 und 2014 nie erlebt habe. Jonathan dagegen kann sich gar nicht sattsehen an den vier Ziffern, die sein Geburtsjahr datieren. »Es kommt für mich immer noch einem
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