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Die gestohlene Zeit

Die gestohlene Zeit

Titel: Die gestohlene Zeit
Autoren: Heike Eva Schmidt
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flüsterte der Wind, der um die Hütte strich.
    »Das ist nicht wahr! Ich hätte den Ring haben sollen und ein tolles Leben haben können! Es wäre einfach fair gewesen!«, brüllte er in die Dunkelheit. »Warum musste sie zurückkommen? Sie hat Udo den Ring gestohlen, und nur deswegen bin ich jetzt hier!«
    »Du wolltest ihn doch auch haben! Deswegen wurdest du auch zum Mörder«, säuselte die Stimme. Kam sie von draußen, oder war sie nur in seinem Kopf? Er hielt sich die Ohren zu, um nichts mehr zu hören. Doch es half nichts. »Mör-der, Mör-der«, wisperte es beständig, und ein Luftzug ließ die trockenen Heuhalme erzittern.
    »Sei still«, keifte er. Mit einem Hauch strichen die Böen um die Wände des Unterstands, doch für Frank klang es wie leises Hohngelächter.
    Er sprang auf und rannte nach draußen, die zerschundenen Hände auf die Ohren gepresst. Die Nacht hatte sich inzwischen still und heimlich davongeschlichen und einer fahlgrauen Morgendämmerung Platz gemacht. Blindlings rannte er in eine Richtung, ohne zu merken, dass er immer tiefer in die Bergwelt eintauchte, während die Sonne aufging.
    Auf einmal lag vor ihm etwas, das Frank mit seinem einen heilen Auge zuerst für einen See hielt. Mit blutrotem Wasser. Erst bei genauerem Hinsehen erkannte er, dass es sich um ein Meer von prächtigen, dunkelroten Rosen handelte, die in voller Blüte standen. Mitten in der zerklüfteten Bergwelt existierte ein Rosengarten! Ihre mattsamtenen Blätter hatten die Farbe von teurem Rotwein, und ihr Anblick versprach Trost und Heilung. Mit ausgestreckten Armen taumelte Frank mitten in den Garten hinein. Die feine schimmernde Schnur, die dabei mit einem leisen Schnalzen zerriss, nahm er nicht wahr. Er fiel vor einer der Rosen auf die Knie und presste sein Gesicht in ihren geöffneten Blütenkelch. Tief sog er ihren wundervollen Duft ein, und ihn durchströmte ein nie gekanntes Gefühl. Es fühlte sich besser an als ein Abend bei Freibier in der Kneipe und alle Nächte, die er mit seinen weiblichen Zufallsbekanntschaften verbracht hatte.
    Alles würde gut werden, das sagte Frank seine innere Stimme. Er hob den Kopf und bemerkte zu seiner Verblüffung, dass er völlig klar sehen konnte – und zwar auf beiden Augen! Seine Hände zuckten zu der Wunde, und da merkte er, dass die gebrochenen Finger nicht mehr weh taten und die Schwellung vollständig verschwunden war. Behutsam betastete er sein verletztes Auge. Doch kein Blut lief mehr aus der leeren Höhle, und als er fassungslos über sein geschlossenes Lid strich, fühlte er keinerlei Schmerzen. Sein geblendetes Auge war geheilt, so als hätte die Wunde nie existiert. »Ich bin gesund! Ich kann wieder sehen!«, schrie er, und ein wildes Lachen stieg in ihm auf.
    Das musste an der Rose liegen!, schoss es ihm durch den Kopf. Vielleicht besaßen diese Blumen eine genauso starke Kraft wie der Ring! Dann könnte er damit Millionen verdienen! Gierig brach er einen der Blumenstengel ab. Und gleich noch einen. Er würde sich einen hübschen Strauß pflücken und jede einzelne Rose für sehr viel Geld verkaufen, wenn er wieder unten im Tal war. Um den verzauberten Garten auch bestimmt wiederzufinden, wenn ihm seine Beute ausging, zog Frank sein Handy und schoss ein Foto von den Rosen im Licht der Morgendämmerung. Im Hintergrund erhoben sich majestätisch die Berge.
    »Sieh an, sieh an, ein Menschling. Und ein Dieb noch dazu!«, ertönte da eine schnarrende Stimme. Frank fuhr herum, und als er sah, wer da gesprochen hatte, ließ er vor Schreck die Rosen fallen. Ein kleinwüchsiger Mann hatte sich vor ihm aufgebaut, und als er herumwirbelte, versperrten ihm vier weitere den Weg. Sie hatten kurze, krumme Beine und gedrungene Körper, auf denen viel zu große, unförmige Köpfe saßen. Faltige Gesichter mit kleinen, tückisch blickenden Augen starrten ihn an. Ein Wiedererkennen durchzuckte ihn. Genau so ein Wesen hatte er vor siebenundzwanzig Jahren schon einmal gesehen. »Ein Zwerg«, murmelte er fassungslos.
    »Nicht ganz. Wir sind derer fünf«, sagte einer, und seine Kumpane kicherten hämisch.
    »Du bist in den Garten unseres verehrten Königs eingedrungen und hast einen der goldenen Fäden zerrissen«, rief der Erste.
    »Und seine Rosen gebrochen«, fuhr der Zweite fort.
    »Dafür musst du bestraft werden«, ergänzte ein anderer.
    Blindes Entsetzen ergriff Frank. Er machte einen Ausfallschritt zur Seite, um zu fliehen. Doch schon hatten die Zwerge ihn eingekreist und
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