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Die Geschichte einer Kontra-Oktove

Die Geschichte einer Kontra-Oktove

Titel: Die Geschichte einer Kontra-Oktove
Autoren: Boris Pasternak
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ganzen Stadt verbreitet hatte, erkannt, daß dieser Festtag verdorben war. Und sie übertrumpfen sich gegenseitig in dem Bemühen, einander den letzten Rest festtäglicher Stimmung zu vergällen. Schon um den Genuß heuchlerischen Mitgefühls gehörig auszukosten, verzichtete jeder auf seine sonstigen eingefleischten Feiertagsgewohnheiten. Bis zum Überdruß traktierten sie einander mit bösartigem Geschwätz darüber, ob so ein furchtbares Unglück unterschiedslos über jeden hereinbrechen könne, oder ob der Herrgott in voller Absicht den hochmütigen Organisten heimgesucht habe. Wenn dies der himmlischen Absicht entsprach, würden dann nicht sie dem Schöpfer wohlgefällig sein, sie, die schlichten, ihre Schlichtheit heute Abend reichlich offenbarenden Seelen? Mit der Witterung von Haustieren spürten sie, daß das Fest der Heiligen Dreifaltigkeit das Fest ihres Standes ist; daß die schwerfälligen und knotigen Kuppeln der Kastanien ihre Schattenspender sind, und das Bier – dessen Schaumkrone in Schlingen und Ringen zerfloß wie ein ausgelaufenes Ochsenauge – das Getränk ihres Standes ist. Und so wurde gerade an diesem Festtag und auf dem Boden ihrer Heimatstadt der sich stets abseitshaltende Organist vom Himmel bestraf – nicht an einem anderen Ort und nicht an einem anderen Tag. Es schien ihnen gewiß, daß der Herr nicht zufällig, sondern mit voller Absicht ihn in ihrer Anwesenheit bestraf hatte, und daß sie alle aufgerufen seien, über Knauer zu richten und ihn zu verurteilen. Und sie richteten ihn, verurteilten ihn zu dem, was ganz und gar ohne ihre Einmischung schon ein paar Stunden früher geschehen war an diesem friedlichen, so gar nicht hochmütigen und daher ihrem Stand entsprechenden Pfingstsonntag.
    Die ganze Stadt sprach nur über den Organisten. Und als Julius Rosarius auf seinem Rückweg von Lollar spät in der Nacht bei der Einfahrt durch das alte Grafentor, ohne aus der Kutsche zu steigen, seiner Gewohnheit gemäß den Wächter nach Neuigkeiten in der Stadt fragte, erfuhr er ungefähr Folgendes: Knauer, der Organist, hatte sein eigenes Kind zu Tode gedrückt; man sagt, es sei während seines rasenden Extemporierens auf der Orgel passiert, das Kind sei in das Orgelgehäuse geklettert und dort habe es irgendso ein Hebel erstickt. Gott allein weiß, wie das geschehen konnte. Man kann es nicht glauben, und doch ist es die Wahrheit.
    Die ganze Nacht hindurch fühlten sich Sessel, Tische und Schränke, Uhren und Bücher in Knauers Haus wie mit dichten Segeltuchschonbezügen überzogen, als seien die Hausleute verreist, die Türen verschlossen. Und tatsächlich hatte sich auch die Haustür den ganzen Tag über nicht mehr geöffnet. Die Hausleute aber waren zu Hause, hatten sich nicht einmal schlafen gelegt, und so bestand ein Quentchen Wahrheit hinsichtlich der Schonhüllen darin, daß stoßweises Schluchzen, unterdrücktes Weinen und kaum hörbare Schritte wie Hüllen über allen Möbeln bis zum Fußboden hinab hingen, und es gab keinen Gegenstand in der Stube – die Tür an Tür an jenes andere Zimmer grenzte, in dem diese Hüllen sorgfältig zugeschnitten wurden – der sich nicht in diesen Katafalk verwandelt haben würde – über dem der Baldachin unterdrückter Klage schwankte.

    Aber in den Bergen, deren Seufzer von weither in das offene Fenster drangen, in den Bergen wollte der Morgen lange nicht aufwachen. Schließlich gelang es, ihn wachzurütteln; und er dehnte sich, reckte sich, rieb die durchgefrorenen Glieder. In bläulich-weißen Streifen erhob er sich, gähnte breit über den ganzen Mund wie ein Menschenfresser und machte sich auf seinen gewohnten Weg. Er kam über Rabenklippe, und der sieben Meilen lange Weg zu Fuß mit leerem Magen auf der menschenleeren und noch dunklen Poststraße ermüdete ihn tödlich. Er kam schlapp, unausgeschlafen, mit dicken Klumpen von nassem Straßenlehm an den Stiefelsohlen.
    Meistens blieb er an dem Fenster stehen, verschlang mit großen hungrigen Augen alles, was sich in diesem Zimmer befand. Er liebte den noch vom Abendbrot übrig gebliebenen und nicht weggeräumten Käse und war ein Meister in der Kunst, den jungen Mäusen, die warmen, grauen Watteklümpchen glichen, Augen zu machen.
    Die Hausherren hatte er noch nie zu Gesicht bekommen. Zu seiner unendlichen Verwunderung fand er heute, als er sich heranschlich, das Fenster weit geöffnet, und statt der Mäuse hinter der Scheibe sah er dieses Mal eine Kerze, die sich selbst überlassen
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