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Die Geschichte einer Kontra-Oktove

Die Geschichte einer Kontra-Oktove

Titel: Die Geschichte einer Kontra-Oktove
Autoren: Boris Pasternak
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seinen Erinnerungen. Nach der Ankunf in Berlin im Januar 906 wohnte die Familie zunächst im Hotel Fürst Bismarck, am Knie. Später übersiedelten die Eltern mit den beiden Töchtern in eine Pension und mieteten die Söhne in einem billigen Quartier bei einer Obstund Südfrüchte-Händlerin, »die Witwe« genannt, in der Kurfürstenstraße ein. In der Wohnung der Obsthändlerin gab es ein Klavier. Boris gab der Tochter des Hauses Unterricht und benutzte das Instrument auch selbst, sowohl zum Improvisieren wie zu ernsthafer Komposition unter der brieflichen Anleitung von Ju. D. Engel. Die Brüder spazierten viel durch die Stadt, saßen im Tiergarten, lasen Reclam-Hefe und besuchten die vormittäglichen Sinfonie-Konzerte. Als Alexander Leonidowitsch dieses Kapitel seiner Erinnerungen niederschrieb, ahnte er nicht, daß ich das Manuskript dieser Erzählung aufewahrt hatte. Es wird daher nicht uninteressant sein, einen Abschnitt aus diesem Kapitel mit dem Anfang der Erzählung zu vergleichen: »Hier in Berlin ging ich mit meinem Bruder of in eine nahegelegene Kirche, sie trug den ungewöhnlich gotischen Namen ›Gedächtniskirche‹. Diese Kirche, Gott allein weiß, in welchem Stil sie erbaut ist, war ebenso berühmt für ihren Organisten wie für ihre Akustik. Der Organist war außerordentlich begabt und von hoher musikalischer Kultur. Später, als wir mit den Gebräuchen in dieser Kirche vertraut waren, gingen wir manchmal auch alltags hin; dann gab es keinen Gottesdienst, und es waren auch keine Besucher da. Wir gingen hin, wenn der Organist, als sei er bei sich zu Hause, auf der Orgel übte, etwas Neues einstudierte oder einzelne Melodien Bachs in verschiedener Weise interpretierte.
    Zu Höhepunkten in seinem Bachspiel kam es meistens am Schluß des Gottesdienstes, beim Ausklang. Dann, als erglühe Bach in seinem Appell an den Weltenherrscher, gelangte er in seinem Trotz fast bis zum Schrei; und die Musik ließ die Mauern erbeben, fand nicht genug Platz in ihren Grenzen, bewegte sie, wie ein tiefer Seufzer den Brustkorb bewegt. Die Orgel und Bach – indem sie die Tone immer stärker komprimierten, verdichteten zu zweit die Substanz so sehr, daß wir unsere Erdenschwere verloren und uns von der Dichte der Töne in geistigem Schweben gewiegt fühlten. Es schien, als verschwinde alles ringsum in einer allgemeinen Endlosigkeit der Welten, irgend etwas hielt uns in mächtigen Armen und stützte uns in diesem gewaltigen Brausen der Orgelbässe. Wenn der Organist, längst jenseits aller denkbaren Erdenkraf, die letzten Akkorde gegriffen hatte, schwieg die Orgel plötzlich und abrupt und lauschte dem Nachhall ihrer eigenen Klänge von den Wänden, Vitragen und Säulen, der die Kirche belebte. Erschöpf gingen wir als die letzten hinaus, verwundert, daß Häuser und Straßen noch da waren. Wir gingen langsam nach Hause und schwiegen.« Die Beschreibung der Studentenzeit in Marburg im Sommersemester 92 umfaßt ein Drittel des Geleitbriefs. In der Hoffnung, daß dieses Werk deutschen Lesern in den, leider gekürzten, deutschen Übersetzungen bekannt ist, erlaube ich mir, ergänzend aus einem Marburger Brief Pasternaks an seinen Freund K. G. Loks, der im Geleitbrief erwähnt wird, zu zitieren:
    »Ich kann mir schwer einen Ort auf der Welt vorstellen, der in höherem Grade illustriert ist als Marburg. Und das ist nicht jenes oberflächlich Malerische, von dem wir sagten, daß es entweder entzückend oder allerliebst sei. Die lange erprobten, in Jahrhunderten erstarkten Schönheiten dieser Stadt – von der Legende der Heiligen Elisabeth beschützt –, haben irgendeine dunkle und gebieterische Neigung zur Orgel, zur Gotik, zu etwas Unterbrochenem, nie zu Ende Gebrachtem, das hier vergraben liegt. Mit diesem Zug ersteht die Stadt. Aber sie ist nicht belebt. Da ist keine Lebendigkeit. Es ist irgendeine dumpfe Bemühung des Archaischen. Die Bemühung alles zu erschaffen: die Dämmerung, den Duf der Gärten, die säuberliche Menschenleere in der Mittagsstunde, die nebligen Abende. Geschichte ist hier irdisch manifest geworden. Das wissen, das fühlen alle.« Diese Zeilen können als erklärende Formel für den Inhalt der Geschichte einer Kontra-Oktave gelten, für ihren Entwurf oder auch für ihre sujetlose Gliederung. Zudem begegnen wir hier wieder einem Grundmotiv Pasternaks: dem Bestreben, das Unbeseelte, Abgelebte zu beleben und, es ausgrabend wie einen archäologischen Schatz, zum Gegenstand des geistigen Lebens
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