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Die Geschichte einer Kontra-Oktove

Die Geschichte einer Kontra-Oktove

Titel: Die Geschichte einer Kontra-Oktove
Autoren: Boris Pasternak
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Wirtshaushof schritten. Dieser Stil hatte sich ihren Greisenbeinen angeschmiegt wie ein unter die Kniehosen gestopfes orthopädisches Korsett. Und die strenge Achtbarkeit dieses Stils hatte ihnen einen Maulkorb angelegt …
    Aus dieser Lähmung lösten sie sich erst, als Grüner ihnen durch eine Mitteilung gleichsam unter die Arme griff: »Also ja, es stimmt. Ich habe Ignaz gefragt. Die Bärin ist eingegangen.« »Krepiert?«

    Und sie schritten zum Tor hinaus.
    Seebald war nicht bei ihnen gewesen. Als er am anderen Tag vor dem Mittagessen in den Gasthof kam, um Knauer zu besuchen, erfuhr er, daß dieser schon abgefahren war. Beide Reisenden hatten die Stadt schon am Morgen verlassen.
    Damit endet die Geschichte von der Kontra-Oktave, und es beginnt die Fabel von Knauers schlechtem Leumund. Aber das ist nicht einmal eine Fabel, sondern üble Nachrede:
    Martens, auch er Organist, war dabei gewesen, als Tuch Knauer das Edikt verlesen hatte. Er war ein Mensch von großer Beobachtungsgabe und über die Maßen gutmütig. Noch of in späterer Zeit, wenn die Gelegenheit es ergab, erinnerte er seine Amtsbrüder an den Gegenstand der Information für Knauer, und daran, wie äußerst merkwürdig sich dieser dabei betragen habe.
    »Naja, eben ein Narr! Man spricht zu ihm vom Zorn des Herrn. Und er – hört überhaupt nicht zu. Soll er, der Gottlose. – Er – ich meine Tuch – griff zu hoch, als er mich lobte (das sage ich nicht aus falscher Bescheidenheit), aber die Wahrheit ist doch: eine unglückliche, von ihrem Mann verlassene Frau – wie hätte ich da nicht helfen sollen … jeder von uns hätte das getan … und außerdem – die verewigte Dorothea war von engelgleichem Gemüt, man muß gerecht sein. So ein Narr! Dann zeigt Tuch auf mich, sagt: ›dieser würdige Mann‹ – ich weiß die genauen Worte nicht mehr – ›ja, hätte nicht dieser menschenfreundliche, überaus würdige Mann (wirklich außerordentlich schmeichelhaf) sie – wenn man so sagen darf – geheiratet in Anbetracht seiner uneigennützigen Anteilnahme am Schicksal Ihrer Gattin usw. usw.‹ Aber er! Auch das ließ er an seinen Ohren vorüberrauschen. Dieser Narr! Naja, man muß zugeben, er ist schon alt, langsam in seinen Gefühlen. Aber was heißt schließlich alt! Beiläufig läßt jemand fallen, daß ich sozusagen seine Pflichten übernommen habe oder etwas in der Art – und dieser Narr dreht die Augen zu mir, und erst jetzt tritt zu Tage, daß er nicht stumm ist: ›Sie – sind der Organist?!‹ Und das waren seine einzigen Worte während der ganzen Zeit, die wir bei ihm zubrachten. Nur ein Narr kann so sprechen! Ich setze Sie mit all dem in Erstaunen, meine Herren, verzeihen Sie. Aber hätte ich schon damals in Ambach gelebt –« »Was dann?«
    »Hätte ich – so wie Sie alle – schon zu seiner Zeit hier gewohnt –, ich hätte ihn auf den ersten Blick durchschaut. Ich hätte alles voraussagen können. Das steht fest!«

Nachwort zur deutschen Ausgabe
    .

    Im Winter 945 gab mir Boris Pasternak ein Bündel Papiere, das ich möglichst bald zum Ofenanheizen verwenden sollte. Er hatte seit er erwachsen war keinerlei Interesse mehr an einem Archiv, sah im Aufewahren keine praktische Notwendigkeit. Die Kladden verbrannte er sofort nach der letzten Überarbeitung eines Textes, die Reinschrifen gab er an den Verlag. Als Manuskripte nur noch in Maschinenschrif abgeliefert werden durfen und die Verlage Handschrifen nicht mehr annahmen, schenkte er sie Freunden und Bekannten, die die Schönheit seiner Handschrif entzückte. So gehörte das Verbrennen von Manuskripten bei Pasternak zu den Alltäglichkeiten. Meine Hilfe brauchte er nur, als in seiner Wohnung in der Lawruschinskij-Gasse die Zentralheizung schon wieder in Betrieb genommen war und es keine Öfen mehr gab, aber wir am Twerskoj Boulevard, noch die mit Holz geheizten Kriegsöfchen hatten. Von Zweifeln beunruhigt, rief ich meinen Vater an und sagte ihm, daß ich doch lieber mit Zeitungspapier Feuer machen wollte. Eine Zeitlang war er deshalb ärgerlich auf mich; er verlangte zwar die Papiere nicht zurück, gab mir aber nie mehr einen ähnlichen Aufrag. Außer einer Anzahl von Gedicht-Varianten und -Entwürfen und einem Packen alter Briefe enthielt das Bündel auch eine Erzählung mit dem Titel Die Geschichte einer Kontra-Oktave.
    Inzwischen sind dreißig Jahre vergangen; sie waren so übervoll von Ereignissen, daß das Gedächtnis sie nur mit Mühe festhalten kann. In der zweiten
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