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Die Geschichte einer Kontra-Oktove

Die Geschichte einer Kontra-Oktove

Titel: Die Geschichte einer Kontra-Oktove
Autoren: Boris Pasternak
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hätte den lawinenhafen Donner einer chromatischen Tonleiter gehört, schnell und vollständig gespielt von den tiefsten Tönen bis zum äußersten Diskant und zurück, vom A der Sub-Kontra-Oktave über das ganze Manual; und er hätte daran jenes Verfahren erkannt, mit dem Fachleute ein Instrument probieren, sich von der Intaktheit aller seiner Pfeifen überzeugen.
    Aber auf dem Elisabethplatz war keine Seele. Als erste erschienen zwei Leute auf der Straße, die die Kirche durch die niedrige in den Kirchgarten führende Seitentür verlassen hatten. Sie gingen in verschiedenen Richtungen auseinander, nachdem sie sich mit wenigen und kaum verständlichen Worten voneinander verabschiedet hatten. »Bemerkenswert! Und vor allem: ich konnte ja gar nicht vermuten, daß Sie so …«, sagte, die Silben dehnend, der eine. »Hast du eine Taschenuhr bei dir?« »Fünf Minuten vor fünf.«
    »Gut, jetzt kann ich auch schon Seebald aufsuchen. Aber du geh schlafen, schlaf dich aus.«
    »Bälge treten macht gar nicht müde. Es macht sogar Spaß wie in der Schmiede. Aber ich muß mich bei Ihnen entschuldigen. Ich glaubte wirklich, Sie seien drauf und dran, eine Torheit zu begehen, darum bin ich Ihnen nachgegangen. Und Sie hatten gestern selbst gesehen, daß die Tür …« »Jaja, ich sagte es dir ja. Ich sah es, als wir vorbei gingen. Wahrscheinlich haben die Maler sie offengelassen. Drinnen wird renoviert. Aber jetzt geh.« »Und Sie?«
    »Ich habe noch etwas vor. Du mußt dich schlafen legen, geh.«
    »Also, à bientôt. Nein, in der Tat, bemerkenswert. Vor allem …«
    . . . . . . . . . . . .
    In Wirklichkeit hatte der Tag begonnen, als hinter dem Gasthof, hinter den Pferdeställen, hinter dem Johannisbeergebüsch das leichte Klirren von Stahl und das Schleifen des Wetzsteines über die Sensenschneide auf klang. Der Hinterhof des Wirtshauses endete am Zaun eines kleinen, dicht zugewachsenen Obstgartens. Er lief an dessen ausgefranstem Unkrautund Brennesselrand entlang, den Kalkspritzer verunzierten. Noch war der Morgen weit, als dort hinter den Johannisbeersträuchern Schwung auf Schwung der sirrende, feine und schwerelose Ton der Sense durch das trunkene Gras zu schwirren begann. Es war feucht, noch nicht zu Atem gekommen. Tote Tropfen des gestrigen Regens zogen wie schwere Ohrläppchen die Zweige der Sträucher nach unten.
    Zahllos waren sie in ihrer nassen Finsternis, erstarrt, unbeweglich, aufgequollen und schweigend. Ihre Unbeweglichkeit kündigte an, daß der Tag heiß und schwül werden würde. Einstweilen jedoch
    . . . . . . . . . . . .
    Und die Sense sang hinter den Johannisbeersträuchern, durchschnitt die Luf mit beißender Geißel.
    Mit dieser Mahd wurde auch der Tag aus dem dichten Gras hinter dem Johannisbeergebüsch herausgehoben. Mit ihr und nicht durch die beiden Stimmen, die vor dem Tor des Gasthofs zu dieser frühen Stunde über irgendeine Angelegenheit in einen lauten Wortwechsel geraten waren. Es war die Mahd. Denn als die beiden Reisenden aus dem Tor getreten waren, seine Schwelle hinter sich gelassen hatten und auf die Straßenmitte zugingen, hörten sie, wie auf der Hofseite gemäht wurde; und sie vermuteten, daß die kleine Wiese hinter dem Pferdestall abgemäht würde, die von ihrem Fenster aus zu sehen war, und die mit so großer Mühe die vormorgendliche Dunkelheit überwunden und sich aus ihr zu einem hellgrauen, undurchsichtigen Rhombus befreit hatte. Die beiden Männer sprachen durchaus nicht laut. Doch in der vollkommen menschenleeren Stille, die an jeder Kreuzung, in jedem Hof und in allen Gassen der Stadt in Quartier lag, stellten ihre Worte eine so laute und unverhohlene Absonderlichkeit dar, daß man sich über die Kühnheit und das unbeschwert eingegangene Risiko dieser beiden einzigen Stimmen in der Stadt wundern mußte. Sie entfernten sich, ihre Worte hüpfen, auch die Männer bewegten sich offenbar in Sprüngen, eilten auf die Elisabethstraße zu. »Du wirst die Bälge treten.« »Und die Verantwortung?« »Übernehme ich.« »Wie kommen wir aber hinein.« »Die Seitentür ist offen.« »Wie?«
    »Ich sah es gestern Nacht. Wir kamen ja dran vor-
bei. Und da fiel es mir auf. Wahrscheinlich haben
Maler sie offen gelassen. Renovierung, nehme ich
an.«
»Verrücktheit.«
»Geh drum herum.«
»Ich springe drüber.«
»Da! Siehst du.«
»Geben Sie Ihr Tuch.«
    »Laß nur. Muß erst trocknen, dann kann man mit der Bürste drangehen. Das sind ja regelrechte Seen hier. Ich kann mich überhaupt
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