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Die Geschichte einer Kontra-Oktove

Die Geschichte einer Kontra-Oktove

Titel: Die Geschichte einer Kontra-Oktove
Autoren: Boris Pasternak
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vorkommt und nichts Heidnisches dabei ist.« Seebald konnte lange keine Worte finden, schüttelte dem Gast die Hand, umarmte ihn, beide hatten Tränen in den Augen; rasch zog Seebald den seltsamen Besucher hinter sich her in die Stube. Hier erst kamen sie beide richtig zu sich, bald schwangen ihre Stimmen auf und ab, richteten sich ein in ausführlichem, lebhafem Gespräch. Seebalds Stimme kletterte immer höher, und AnneMarie, die sich wieder zu Bett gelegt hatte und nicht die geringste Lust verspürte, zu lauschen, fing ein paar einzelne, unzusammenhängende Worte ihres Mannes auf.
    »Zufall? Wenn das Wetter nicht gewesen wäre. Also ja? Und Sie nicht?« … wunderte sich Seebald, seine übrigen Worte wurden ebenso wie die Stimme des Gastes in einförmiger Rede fest in die Wand eingemauert. Diese Unterhaltung war abgehackt und doch unteilbar. Dann folgte ein kurzes Schweigen. Danach sprach der Gast. Anne-Marie schlief wieder ein.
    »Sie? Sie selbst?« Seebald rief es laut und mißbilligend hinter der Wand. Anne-Marie öffnete die Augen. Hinter dem Fenster breitete sich hitziges und trockenes Vogellärmen aus. Von der Wand spalteten sich schichtweise zäh die Worte des Gastes ab. Anne starrte auf das Muster, das die aufgehende Sonne der bordeauxroten Tapete aufrannte. Sie legte ihren nackten runden Ellbogen unter die schlafwarme Backe. Rund um die Stadt lief das Krähen der Hähne.
    . . . . . . . . . . . .
    »Heute? – Sie sind drin gewesen? Spielen … Sie konnten? Daß ich … auf dieser Orgel …!« Doch dann hörte Seebald von seinem Gast anscheinend etwas Beruhigendes, denn nach diesen Ausrufen nahm das Gespräch der beiden alten Männer einen so gleichmäßigen Fortgang, daß kaum zu unterscheiden war, welcher von ihnen sprach. Die of von Husten unterbrochenen Worte des Besuchers häufen sich und bröckelten ab, verklangen, sogen sich in die Wand und blieben in ihr stecken. Anne-Marie schlief wieder ein und geriet ins tiefste Dickicht eines sie lange gefangengehaltenden Traumes. Sie war 25 Jahre jünger als ihr Mann und konnte noch tief und fest schlafen. Daher hörte sie nicht: »Glauben Sie? Nein. Daß sie zustimmen?! Wo denken Sie hin – die? Nein. Wie können Sie bloß …?!«
    Dann wurde von einem der beiden der Name Tuch genannt und nach einer kleinen Weile ganz deutlich: Sturzwage. Aber, doch das läßt sich nur vermuten, Sturzwages Name wurde viel weniger überzeugt und leiser ausgesprochen.
    So früh und so ungewöhnlich hatte der Tag der Ratssitzung für Seebald begonnen. Aber für sich selbst hatte dieser unmäßig lange Tag noch früher angefangen. Keine Seele war auf den trügerischen, undurchsichtigen Straßen des Städtchens; und nur die Ziegeldächer wimmelten in der Stadt wie körperlose Erscheinungen, die sich lautlos im schwach sich andeutenden Morgengrauen mit kalter Trübe wuschen – keine Seele war in den Straßen, auf die der Tau sank, mit kaltem Schweiß die Stirnbuckel des Straßenpflasters und der Gebäude befeuchtete und hinter den Glimmer des Nebelschleiers trat wie die Spur eines rund geöffneten Mundes an einer feucht angelaufenen Fensterscheibe; keine Seele war in den Straßen, sage ich, als zwischen all den übrigen körperlosen Gebilden etwas Neues entstand, nur in diesem Augenblick auf der Gotteswelt erscheinend und mehr als alle übrigen ein körperloses Gebilde: es war ein Gebäude aus (Tönen), es stöhnte, herangetrieben aus unüberwindbarer Ferne, und verstummte. Es verstummte nicht deswegen, weil es in die Erde zurückgesunken wäre, aus der es irgendwo hervorgekommen war … Aber faßbar war es in seiner Erscheinung nur als nicht mehr menschlicher Versuch lebendig Begrabener, die Stille vom Fleck zu bewegen. Und nur in diesem einen Augenblick unterschied sich das Phantom dieser behutsamen Harmonie (des Tons) von der spukhafen Luf, den spukhafen Dächern und dem spukhafen Tau. Mit Ablauf der Frist dieses einen Augenblicks – hörte es auf, sich vom Tau zu unterscheiden, und war nirgendwo mehr zu finden.
    Keine Seele war auf dem Elisabethplatz, als das Gestein (aus dem die Kirche) gebaut war, dumpf zu summen begann wie ein Kran unter Last. Ihr (der Kirche) ganzes steinernes Fleisch wurde plötzlich schwer, bis ins Innerste durchtränkt von näselndem, dröhnendem, gleichmäßig gedehntem Schnaufen.
    Keine Seele war in der Nähe. Wäre jemand vorübergegangen, dann hätte er den Schritt verhalten und erkannt, daß drinnen die Orgel gespielt wurde; und vor allem: er
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