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Die Geschichte einer Kontra-Oktove

Die Geschichte einer Kontra-Oktove

Titel: Die Geschichte einer Kontra-Oktove
Autoren: Boris Pasternak
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und Selbständigkeit gewähren! – Sie war es doch immer gewesen, die ihn zu beruhigen verstand, wenn Zimmerwände sie trennten, und sie den ganzen Korridor entlang gerannt war, um nur ja rechtzeitig bei ihm zu sein. Aber jetzt, da sie einander fortgenommen wurden, er ganz und gar mit Augen, Händen und seinem klingenden Stimmchen in die Erde vergraben würde – jetzt mußte sie ihn sich selbst überlassen, ungetröstet, entsetzt und verloren. –
    Wenn diese stummen und hysterischen Schreie einer Mutterseele Gedanken gewesen wären, die ihre Brust verknitterten und verunstalteten wie die Falten eines Nessus-Hemdes, – wenn ihr Gehirn diese Schreie hätte bewältigen können –, würde der Gedanke an Selbstmord ihr wie ein Wink des Himmels gekommen sein.
    Aber sie dachte weder daran, noch wußte sie, daß Hysterie wie blindes, farbloses Gewürm sich ungebärdig in ihr wand und wütete. Und wurmstichig geworden, völlig erschöpf vom Weinen, verfielen ihr Gesicht und Körper. Ihre Arme hingen fremd an ihr herab und, irgendwohin ins Leere starrend, ergab sie sich stumpf den unentwegt leise strömenden Tränen. Sie spürte sie schon nicht mehr. Sie flössen ohne ihre Zustimmung, flossen träge wie von selbst und breiteten sich über ihr längst schon nasses Gesicht aus. Diese neuen Tränenströme taten mit ihrem Gesicht das, was jedes anhaltende Regenwetter mit jeder Form tut, wenn es sie mit seinem kläglichen Netz überzieht. Von irgendwo weit her herangetrieben, irgendwohin weit in die Ferne fortziehend, umnebelten und entstellten die Tränen ihr Gesicht. Es hatte sich zur Maske von etwas langst, längst Sinnlosem zerdehnt, zur Maske eines schon seit langem dumpf gewordenen Erstaunens. Das tote Kind glich der Mutter: man brauchte nur beide gleichzeitig anzusehen.
    In diesem Augenblick wurde die Tür halb geöffnet, und von der Schwelle her, ohne ins Zimmer zu treten und ohne zu seiner Frau hinüberzusehen, sagte der Organist leise und verhalten zu ihr: »Geh hinaus, laß mich mit ihm allein sein.« »Amadeus, du! Und jetzt – Amadeus!« stieß sie unzusammenhängend aus und versuchte mit ruckartigen Bewegungen, sich zu erheben. Sie brachte es nicht fertig, die Kräfe verließen sie, taumelnd fiel sie der herbeieilenden Auguste in die Arme, die sie aus dem Zimmer führte. Der Organist schloß hinter ihnen die Tür, näherte sich langsam dem Körper seines Sohnes und setzte sich in den Sessel, den seine Frau eben verlassen hatte. Mit der rechten Hand strich er sich über den Kopf, mit der anderen begann er mit linkischen Bewegungen, das festtäglich gekleidete Körperchen zu streicheln. Knauer schloß die Augen. Er wußte nicht, daß es schon fast dreizehn Stunden her war, seit er um seinen Verstand gekommen war. Und daß dies dort geschehen war im Innern der Orgel. Knauer befand sich im Zustand eines Menschen, der zum ersten Mal selbst, nicht von anderen, erfährt, daß er eine Seele hat. Er fühlte sie und spürte genau, wo sie war, denn sie tat ihm weh. Es ging etwas in ihm vor, das an rheumatische Gefäßveränderungen erinnerte. Wie Muskelfleisch wurde seine Seele fest und hart, begann allmählich zu schwären. Eng, dicht an jede Höhlung seines Körpers geschmiegt, phantasierte sie, wie jedes kranke Organ im Fieber redet. Sie phantasierte und vergrößerte die ihr eigenen Maße bis zu skrupellosen und unglaubwürdigen Dimensionen, ohne sie doch in Wirklichkeit zu verändern. Nicht anders als ein vereiterter Zahn, der bis zu albdruckhafer Grenzenlosigkeit wächst – aus sich und für sich die verrückte Fabel von Goliaths Kiefer hervorbringend –, ohne doch tatsächlich aus dem Kiefer herauszuquellen. Aber Knauer verlor sein Gleichgewicht nicht. Seine Seele bewegte sich in ihm wie ein Solitair, ein allgegenwärtiger Solitair. Dem Menschen wurde durch Verletzungen seiner Seele nur deshalb nicht übel, weil jedem Teilchen seines Körpers, für sich genommen, übel war; diese Varianten der Übelkeit hoben sich gegenseitig auf. Und im Ergebnis dessen empfand der von Übelkeit gepackte Mensch nur deshalb keinen Schwindel, weil er, das Gesetz des spezifischen Gewichts erfahrend, in diesem Strudel der Seele versank, der wahrnehmbar und übelkeiterregend war.
    Aber wie erschauerte er, als er durch das dunkle Dickicht seines Dämmerzustandes erkannte, was seine eigene linke Hand mit dem Körper des Knaben tat. Hastig zog er die Hand zurück. Er riß sie so jäh vom Körper des Sohnes los, wie man vor einer
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