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Die Geheimnisse der Toten

Die Geheimnisse der Toten

Titel: Die Geheimnisse der Toten
Autoren: Tom Harper
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den Dampf und starre durch die Schwaden auf die schwarzweißen Meeresgötter am Boden. Sie starren vorwurfsvoll zurück. Sterbende Götter einer sterbenden Welt. Wissen sie, welche Rolle ich bei ihrem Niedergang gespielt habe?
    Wieder schaudert es mich. Ich bin bereit zum Sterben. Was mich schreckt, ist der Tod. Das Danach. Götter, die im Frühling sterben, finden mitunter ins Leben zurück. Nicht so alte Männer, die im Herbst getötet werden. Aber wohin gehen sie stattdessen?
    Der Dampf wird dichter.
    Zeit meines Lebens habe ich mit Göttern gerungen, genauer: mit einem Gott, der Mensch wurde, und einem Menschen, der Gott wurde. Jetzt, zum Ende hin, blicke ich in den dampfenden Abgrund und weiß ebenso wenig, was die Götter mit mir vorhaben, wie vor all den Jahren, als ich gerade über den Rand meiner Wiege hinausschaute. Rätselhaft bleibt mir auch das, was mir vor vier Monaten an einem staubigen Apriltag in Konstantinopel geweissagt wurde, dass nämlich ein toter Mann mein Leben verändern würde. Das, was davon übrig geblieben ist.
    Erinnerungen umwölken mich und gerinnen zu Tropfen auf meiner Haut. Der Geist ist ein fremdes Land mit vielen Mauern, aber ohne Entfernung. Ich bin nicht mehr im Badehaus, sondern an einem anderen Ort, in einer anderen Zeit, und mein ältester Freund sagt …

    «… ich brauche dich.»
    Wir sind im Audienzsaal des Palastes, doch außer uns ist niemand zugegen. Zwei alte Männer, gezeichnet von der Zeit. Doch zwischen uns hat sich nichts geändert. Seit ich denken kann, führt er das Wort, und ich applaudiere.
    Diesmal aber applaudiere ich nicht. Ich höre ihm zu – er spricht von einem Toten –, und ich frage mich, ob meine Miene angemessen ist. Nach so vielen Jahren bei Hof kann ich meine Gefühle wie Masken aufsetzen, die aus einer gutgeölten Lade hervorgeholt werden. Doch ich weiß nicht, was dieser Augenblick verlangt. Ich möchte dem Toten Respekt zollen, aber nicht zu viel, denn in seinen Tod investieren, wie es von mir verlangt wird, will ich nicht. Bin ich deshalb gefühllos und abgestumpft?
    «Sie fanden ihn vor zwei Stunden in der Bibliothek der Akademie. Und kaum dass ihnen bewusst war, wer er ist, schickten sie einen Boten zum Palast.»
    Er versucht, mir die Geschichte schmackhaft zu machen, meine Neugier zu wecken. Ich schweige. Es gibt nicht viele, die stumm bleiben, wenn er zu ihnen spricht. Vielleicht bin ich der Einzige. Wir sind wie Brüder aufgewachsen, waren die unzertrennlichen Söhne zweier Offiziere in derselben Region. Seine Mutter führte ein Wirtshaus, meine eine Wäscherei. Heute schmücken ihn Titel, so zahlreich wie die in sein Gewand gestickten Edelsteine. Flavius Valerius Constantinus – Kaiser, Cäsar und Augustus, Konsul und Prokonsul, Hohepriester. Konstantin der Fromme, der Gläubige, der Gesegnete und Gütige. Konstantin der Siegreiche, der Triumphator, der Unbezwungene. Kurzum: Konstantin der Große.
    Und noch immer, obwohl er ein alternder Großvater ist, strahlt er Größe aus. Das spüre ich. Sein rundes Gesicht, puppenhaft und verführerisch, als er jung war, mag dick und schlaff geworden sein, die Muskeln, die ein Imperium errungen haben, sind vielleicht verkümmert. Aber die Größe bleibt. Künstler, die ihn mit goldener Gloriole darstellen, kolorieren nur, was jedermann weiß. Er verkörpert Macht – jene unbezwingbare Zuversicht, die nur von den Göttern verliehen werden kann.
    «Der Name des Toten ist Alexander. Er war ein Bischof und von großer Bedeutung für die christliche Gemeinschaft. Und offenbar unterwies er einen meiner Söhne.»
    Einen meiner Söhne, offenbar. Mir ist, als spülte eine kalte Meeresströmung über mich hinweg, doch ich zucke nicht. Ich verziehe keine Miene. So wenig wie er.
    Ohne Vorwarnung wirft er mir etwas zu. Ich bin zwar langsam und schwerfällig geworden, kann mich aber immer noch auf meine Reflexe verlassen. Ich fange es mit einer Hand auf und öffne meine Faust.
    «Das hat man neben seiner Leiche gefunden.»
    Es ist eine Kette mit Amulett, ungefähr so groß wie mein Handteller. Konstantins Monogramm, leicht verändert, der Buchstabe P mit einem aufrechten Kreuz verbunden, eingefasst in ein feinziseliertes Goldgewebe und besetzt mit roten Glasperlen. Die Kette ist aufgebrochen und scheint von jemandes Hals gerissen worden zu sein.
    «Gehörte es dem Bischof?»
    «Sein Diener sagt nein.»
    «Hat sein Mörder die Kette verloren?»
    «Vielleicht wurde sie auch absichtlich neben die Leiche
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