Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Geheimnisse der Toten

Die Geheimnisse der Toten

Titel: Die Geheimnisse der Toten
Autoren: Tom Harper
Vom Netzwerk:
kann. Jemanden, der weiß, wo die Leichen vergraben sind.»
    Ich lache. Etwas anderes bleibt mir nicht übrig. Natürlich weiß ich, wo die Leichen vergraben sind. Die meisten Gräber habe ich schließlich selbst ausgehoben.

[zur Inhaltsübersicht]
    3
    Gegenwart
    Die Deckenverkleidung war weiß, die Wand grau und pockennarbig, darin eingelassen eine Holztür mit verschmiertem Fensterglas und einem Kruzifix darüber. Ein statisches Summen schwang in der Luft, dazu ein unregelmäßiger Piepton, der sich anhörte wie die Schießerei in einem alten Videospiel. Sie hatte wahnsinnige Schmerzen.
    Sie lag auf dem Rücken und konzentrierte sich auf Einzelheiten, um die Schmerzen zu bekämpfen. Die Wand war doch nicht pockennarbig. Das es so schien, lag an der vom Beton abblätternden Farbe. Graue Farbe. Sie fragte sich, wer um alles in der Welt auf die Idee gekommen war, Beton grau zu überstreichen. Das Piepen war auch nicht wirklich unregelmäßig. Es kam aus zwei rhythmisch pulsierenden, aber leicht phasenversetzten Quellen. Die eine piepte ein bisschen schneller als die andere, sodass sich die Töne einander annäherten, für einen kurzen, gnädigen Moment synchron pulsierten und dann wieder auseinanderdrifteten.
    Wirklich weiß war die Decke auch nicht. An manchen Stellen hatte sie dunkle Flecken wie von verschüttetem Wein.
    Hinter der verschmierten Glasscheibe bewegte sich etwas. Jemand schien davorzustehen, mit dem Rücken zur Tür. Sie wünschte sich, er würde gehen, aber das tat er nicht.
    Wo bin ich?, dachte sie. Und dann, eine Sekunde später, stellte sich ihr eine noch beunruhigendere Frage: Wer bin ich?
    Von Panik ergriffen, versuchte sie aufzustehen, musste aber feststellen, dass sie sich nicht bewegen konnte. Angst schnürte ihr die Kehle zu. In ihrem Kopf schwirrte es so sehr, dass sie fürchtete, er könnte zerspringen. Es wurde dunkel im Raum. Sie wand sich, kämpfte und schrie.
    Die Tür flog auf. Ein Mann in einem eng sitzenden Anzug stürmte herein und brüllte Wörter, die sie nicht verstehen konnte. Sein Jackett öffnete sich. In einem braunen Lederholster unter dem Arm steckte eine Pistole.
    Sie verlor die Besinnung.

    «Abigail? Können Sie mich hören?»
    Die Panik hatte sich gelegt, aber sie ruhte nur und brannte sich durch ihren Magen. Der flache Atem verschaffte ihr nicht genügend Luft. Sie versuchte, den Arm zu bewegen. Vergeblich. Sie atmete schneller. Ruhig bleiben.
    Sie ortete die Pieplaute, lauschte angestrengt auf den Rhythmus innerhalb der Synkopen und zwang sich, im Gleichtakt zu atmen. Es beruhigte sie ein wenig, gerade genug, um zu wagen, die Augen aufzuschlagen.
    Ein Gesicht starrte auf sie herab. Braune Haare, braune Augen, brauner Bart. War das, was sie sah, real, oder eine aus den braunen Flecken an der Decke zusammenphantasierte Vision?
    Das Gesicht bewegte sich. Die Decke nicht.
    «Abigail Cormac?», fragte er wieder.
    «Ich weiß nicht …»
    «Sie erinnern sich nicht?»
    Wieder von Angst gepackt, fragte sie sich: Sollte ich mich erinnern? Woran sollte ich mich erinnern? Ihr Verstand war so hilflos wie ihr Körper und stemmte sich gegen unsichtbare Fesseln.
    «Nein.»
    «An nichts?» Unglaublich. Ihre Verzweiflung nahm zu.
    Das Gesicht zog sich zurück. Sie hörte einen Stuhl über den Boden kratzen. Weiter entfernt tauchte das Gesicht wieder auf, wie eine Sonne am Horizont ihrer flachen Welt.
    «Ihr Name ist Abigail Cormac. Sie arbeiten für das Auswärtige Amt und wurden entsandt, um an der EULEX-Mission im Kosovo teilzunehmen. Sie haben ein paar Tage Urlaub gemacht. Und plötzlich ist etwas schiefgelaufen.»
    Was sie hörte, klang vernünftig. Es war, als sähe sie den Film zu einem Buch, das sie einmal gelesen hatte. Manches stimmte mit der Vorlage halbwegs überein, anderes war aus unerfindlichen Gründen geändert worden. Sie betrachtete den Mann.
    «Wer sind Sie?»
    «Norris. Von der Botschaft hier in Podgorica. Das ist …»
    «… die Hauptstadt von Montenegro.» Ihre Aussage kam wie aus der Pistole geschossen und überraschte sie selbst so sehr wie ihn. Woher weiß ich das?
    Die braunen Augen verengten sich. «Sie erinnern sich also doch.»
    «Ja. Nein. Ich …» Es fiel ihr schwer, einen Gedanken zu fassen. «Manches verstehe ich. Zum Beispiel Wörter wie ‹Botschaft›, ‹Kosovo› oder ‹Urlaub›. Sie ergeben Sinn. Aber wenn Sie mir eine Frage stellen, weiß ich keine Antwort darauf. Da ist nichts.»
    «Wirklich nichts?»
    Ihren Kopf zu gebrauchen strengte sie
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher