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Byrne & Balzano 1: Crucifix

Byrne & Balzano 1: Crucifix

Titel: Byrne & Balzano 1: Crucifix
Autoren: Richard Montanari
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    Siehe,
    ich sende einen Engel vor dir her,
    der dich behüte auf dem Wege.
     
    2. Buch Mose, 23. Kapitel, Vers 20
     
     
    Palmsonntag, 23.55 Uhr
     
     
    E ine kühle Traurigkeit umgibt sie, eine tiefe Melancholie, die über ihre siebzehn Lebensjahre hinwegtäuscht, ein Lachen, das niemals innere Freude entfacht. Vielleicht gibt es gar keine.
    Man sieht solche Menschen überall auf den Straßen. Menschen, die allein gehen, Bücher an ihre Brust gedrückt, den Blick zu Boden gerichtet, in Gedanken versunken.
    Sie ist diejenige, die ein paar Schritte hinter den anderen Mädchen geht und schon zufrieden ist mit der Illusion einer Freundschaft. Sie ist diejenige, die wohl behütet die Klippen der Jugend umschifft. Diejenige, die ihre Schönheit verleugnet, als könne man sich dafür oder dagegen entscheiden.
    Sie heißt Tessa Ann Wells.
    Und sie duftet wie frisch geschnittene Blumen.
    »Ich kann dich nicht hören«, sage ich.
    »… Vater unser«, dringt ihre dünne Stimme aus der Kapelle. Sie hört sich an, als hätte ich sie geweckt, was gut möglich ist. Ich habe sie mir am frühen Freitagmorgen geschnappt. Mittlerweile ist es Sonntag, und es geht auf Mitternacht zu. Seitdem betet sie fast ununterbrochen in der Kapelle.
    Es ist natürlich keine richtige Kapelle, eher eine umgebaute Kammer, aber sie ist mit allem ausgestattet, was man für das Nachdenken und das Beten braucht.
    »Du musst dir mehr Mühe geben«, sage ich. »Du weißt, dass es wichtig ist, jedem einzelnen Wort eine Bedeutung zu verleihen, nicht wahr?«
    Aus der Kapelle dringt: »Ja.«
    »Denk daran, wie viele Menschen auf der ganzen Welt in diesem Augenblick beten. Warum sollte Gott gerade denen Gehör schenken, die unaufrichtig sind?«
    »Es gibt keinen Grund.«
    Ich lehne mich näher an die Tür. »Willst du, dass der Herr dir am Tag der Verzückung diese Geringschätzung entgegenbringt?«
    »Nein.«
    »Gut«, sage ich. »Welcher Abschnitt?«
    Es dauert einen Moment, bis sie antwortet. In der Dunkelheit der Kapelle ist man auf seinen Tastsinn angewiesen. Schließlich sagt sie: »Der dritte.«
    »Beginn noch mal von vorn.«
    Ich beleuchte die Überreste der Votivbilder. Ich trinke meinen Wein aus. Anders als viele glauben, werden die Liturgien der heiligen Sakramente nicht immer zeremoniell vollzogen, sondern sind häufig Grund zur Freude und zum Feiern.
    Ich will Tessa gerade daran erinnern, als sie mit klarer, ausdrucksvoller Stimme erneut zu beten beginnt:
    »Heilige Maria voller Gnaden, der Herr ist mit dir …«
    Gibt es einen schöneren Laut als eine Jungfrau beim Gebet?
    »Gesegnet seiest du unter den Frauen …«
    Ich schaue auf die Uhr. Es ist kurz nach Mitternacht.
    »… und gesegnet sei die Frucht deines Leibes, Jesus …«
    Es ist Zeit.
    »Heilige Maria, Mutter Gottes …«
    Ich nehme die Spritze aus der Schachtel. Die Nadel schimmert im Kerzenschein. Der Heilige Geist ist hier.
    »Bete für uns Sünder …«
    Das Leiden hat begonnen.
    »Jetzt und in der Stunde unseres Todes …«
    Ich öffne die Tür und betrete die Kapelle.
    Amen.
     

 
     
     
     
     
     
     
     
     
     
    ________________ E RSTER T EIL

 
     
    1.
     
     
    Montag, 3.05 Uhr
     
     
    E s gibt eine Stunde, die all jene kennen, die sich ihr stellen. Es ist die Zeitspanne, da die Dunkelheit den Schleier des Zwielichts vollkommen verdeckt und die Straßen still und verlassen sind; eine Zeit, da die Schatten sich zusammenballen und zu einem einzigen Dunkel verschmelzen. Eine Zeit, da die Leidenden nicht mehr an ein Morgen glauben.
    Jede Stadt hat ihr Neon-Golgatha.
    In Philadelphia ist es die South Street.
    Während die meisten Menschen in der Stadt der Brüderlichen Liebe schliefen und die Flüsse leise ins Meer strömten, eilte der Menschenhändler in dieser Nacht wie ein trockener, stürmischer Wind die South Street hinunter. Zwischen der Dritten und Vierten Straße huschte er durch ein schmiedeeisernes Tor, lief einen schmalen Pfad hinunter und betrat einen Privatclub namens Paradise. Die wenigen Gäste schauten zur Tür und wendeten ihre Blicke sofort wieder ab. Denn in den Augen des Händlers sahen sie ein Tor zu ihren eigenen schwarzen Seelen, und sie wussten, dass sie ihn nicht beachten durften, und sei es für einen noch so kurzen Augenblick. Das gegenseitige Verständnis wäre viel zu groß gewesen, als dass man es hätte ertragen können.
    Für diejenigen, die wussten, womit der Mann handelte, war er ein Rätsel, aber keinem stand der Sinn danach, dieses
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