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Die schwarze Feder

Die schwarze Feder

Titel: Die schwarze Feder
Autoren: Heyne
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Kapitel 1
    Ich war der Tod, der Leben erntete. Meine Bestimmung war ungeheuerlich, das wusste ich. Dennoch tötete ich einen nach dem anderen, einen nach dem anderen, einen nach dem anderen. Wäre das, was ich tat, Musik gewesen – und für mich war es Musik – , so hätte man es zu Recht als schlichtestes Volkslied bezeichnen können. Doch ich hatte mich darangemacht, eine Symphonie des Todes zu komponieren, eine unsterbliche Oper des Grauens.
    Dann bescherte mir eine unerwartete Begegnung plötzlich ein neues Verständnis. Um meiner Aufgabe gerecht zu werden, um mein ganzes Potenzial zu entfesseln und ein wahrhaft denkwürdiges Crescendo der Zerstörung zu erschaffen, muss ich ganze Familien töten. Ich muss sie zuerst meinen Wünschen gefügig machen und dann abschlachten. Indem ich irgendeine Familie tötete, tat ich das auch meiner eigenen an, die den Tod verdiente.
    Inspiration kann aus erstaunlichen Quellen entspringen. So hat mir ein Kind den Weg gewiesen.
    Aus dem Tagebuch von
Alton Turner Blackwood
    1989
    Als Howie Dugley eine Woche vor seinem elften Geburtstag auf das Dach des ehemaligen Boswell-Warenhauses kletterte, um zu beobachten, wie die gewöhnlichen Leute auf der Maple Street allerhand gewöhnliche Dinge taten, da sah er das Monster zum ersten Mal.
    Howies Elternhaus war nur zwei Straßen von dem Gebäude entfernt, in dem Boswell’s früher untergebracht gewesen war. Sein Weg dorthin führte ihn erst über den Friedhof von St. Anthony und dann eine Gasse mit Kopfsteinpflaster entlang, in der es kaum Verkehr gab. Gewaltige Scharlach-Eichen, deren Laub jetzt, Mitte Juni, in sattem Grün glänzte, warfen ihre Schatten auf den Friedhof. Howie mochte diese Bäume. Sie lebten länger als Menschen, und sie kamen ihm weise vor, weiser, als Menschen es je sein würden, denn sie hatten so viel gesehen und nichts anderes zu tun, als über das Gesehene nachzudenken und dann weiterzuwachsen. Am liebsten hätte er sich einfach eine Weile unter sie gesetzt oder wäre hinaufgeklettert, hinauf in die ruhige Weisheit der Bäume. Aber das war zu gefährlich. Dann wäre womöglich wieder einmal jemand aufgekreuzt, um ihn zu schikanieren, und das passierte sowieso schon oft genug, ohne dass er es extra herausforderte.
    Wenn er über den Friedhof ging, boten ihm die Schatten der Bäume und die Grabsteine einen gewissen Schutz. Er trug eine Baseballkappe, hielt den Kopf gesenkt und war darauf vorbereitet, die linke Seite seines Gesichts abzuwenden, falls er jemandem begegnete – und davonzurennen, falls er einen seiner üblichen Peiniger erblickte.
    Neun Monate zuvor war Boswell’s in ein neues Gebäude an der nächsten Ecke umgezogen. In den alten Ziegelbau sollte irgendwann ein anderes Geschäft kommen, aber man hatte noch nicht mit dem Umbau begonnen.
    An der Rückseite befanden sich fünf Fenster, jeweils einen halben Meter hoch und einen ganzen Meter lang. Man konnte durch sie ins Untergeschoss blicken. Früher, als es noch keine Klimaanlagen und Entfeuchter gegeben hatte, waren sie von Zeit zu Zeit geöffnet worden, um das Lager zu belüften und Schimmel vorzubeugen. Alle fünf sahen verschlossen aus, aber als Howie fest gegen das mittlere drückte, gab das verrostete Scharnier an der Oberseite mit einem trockenen Knirschen nach. Er ließ sich mit den Füßen voraus in den düsteren Keller gleiten und stellte sich dann auf die Zehenspitzen, um das Fenster wieder zuzudrücken.
    An seinem Gürtel klemmte eine kleine Taschenlampe, mit der er sich einen Weg durch das leere Lager suchte. Dazu reichte der bescheidene Lichtkegel, doch die muffigen Räume, durch die Howie kam, erhellte er kaum. Unbekannte Bedrohungen schienen in der Dunkelheit, die ihn umgab, umherzuschleichen, doch diese Phantome waren nichts als Schatten, die vor dem wandernden Licht zurückzuckten und dann wieder vordrangen. Howie hatte keine Angst vor der Dunkelheit. Er hatte schon als kleiner Junge gelernt, dass die bei hellem Tageslicht drohenden Gefahren schlimmer als alles waren, was im Dunkeln lauern mochte, und dass selbst Bestien ein freundliches Gesicht und ein gewinnendes Lächeln haben konnten.
    Der Aufzug funktionierte natürlich nicht mehr. Howie nahm die Treppe bis in den dritten Stock, dann erklomm er eine letzte Stiege, die steiler und enger als die vorherigen war. Sie führte in den Geräteschuppen, den man auf dem Flachdach des Gebäudes errichtet hatte. Hier waren Schneeschaufeln, Besen, Putzmittel und dergleichen für den
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