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Die Geburt Europas im Mittelalter

Die Geburt Europas im Mittelalter

Titel: Die Geburt Europas im Mittelalter
Autoren: C.H.Beck
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Geschichte Europas wird besonders dadurch klar, dass Theodosius bei seinem Tod im Jahr 395 das Römische Reich in zwei Hälften teilt, für die er je einen seiner Söhne als Kaiser einsetzt: Honorius im Westen, Arcadius im Osten. Aus der Entwicklung dieses Westreichs geht das Europa hervor, für das wir uns interessieren.
Die Christianisierung: Augustinus
    Das Aufkommen Europas, das wir nun verfolgen wollen, bahnt sich im 4. und 5. Jahrhundert durch zwei wesentliche Phänomene an. Das erste besteht in dem an der Bibel und dem Neuen Testament ausgerichteten Entwurf der christlichen Lehre, wie die Kirchenväter ihn dem Mittelalter hinterlassen sollten. Hier ist nicht der Ort, die Persönlichkeiten und das Werk dieser Begründer des Christentums vorzustellen, aber ich möchte doch zwei von ihnen hervorheben, weil sie für die Ausbildung der europäischen Kultur besondere Bedeutung haben. Der eine, der hl. Hieronymus (um 347–420), dessen Leben sich noch an der Schnittstelle zwischen West und Ost abspielte, wo er lange als Eremit lebte, ist nicht vollständig mit der Zukunft Europas verbunden. Aber es gibt ein grundlegendes Werk, um dessentwillen ich ihn hier erwähne: die lateinische Übersetzung der Bibel nach dem hebräischen Text, die neben die frühere und für mangelhaft gehaltene griechische Übersetzung, die so genannte Septuaginta, trat. Diese lateinische Bibel sollte maßgeblich für das ganze Mittelalter werden – nicht ohne verschiedene Revisionen, von denen die interessanteste eine Bearbeitung der kritischen Ausgabe des angelsächsischen Beraters Karls des Großen, Alkuin, aus dem 9. Jahrhundert ist, die Anfang des 13. Jahrhunderts an der Pariser Universität erstellt wurde. Es handelt sich um die Vulgata.
    Der andere Kirchenvater, Augustinus (354–430), spielt nach Paulus die wichtigste Rolle bei der Einrichtung und Entwicklung des Christentums. Er ist der große Lehrmeister des Mittelalters. Ich will hier nur zwei seiner Werke nennen, die für die europäische Geschichte von grundlegender Bedeutung sind. Zum einen die Erinnerungen an seine Bekehrung, die unter dem Titel
Bekenntnisse
veröffentlicht wurden; sie sind nicht nur einesder im Mittelalter meistgelesenen Werke, sondern auf lange Sicht auch der Ausgangspunkt einer bis heute sich fortsetzenden Serie introspektiver Autobiographien.
    Das andere Werk,
Vom Gottesstaat
, das ebenso objektiv ist, wie die
Bekenntnisse
subjektiv sind, entstand nach der Plünderung Roms durch Alarich und die Goten im Jahr 410. Vor dem Hintergrund dieses Ereignisses, das die alte römische und die neue christliche Bevölkerung in panischen Schrecken versetzte, ja das nahende Ende der Welt befürchten ließ, lehnt Augustinus die millenaristischen Ängste ab, indem er die Endzeit auf eine vermutlich ferne, nur Gott bekannte Zukunft verweist und die Ordnung der Beziehungen zwischen dem Gottesstaat und dem weltlichen Staat entwirft – einer der großen Texte des europäischen Denkens für Jahrhunderte.
    In verkürzter Form ist der Augustinismus als «Lehre von der bedingungslosen Prädestination und dem besonderen Heilswillen, wie Augustinus sie in der letzten Phase seines Lebens entwickelt hat», definiert worden. Aber das Denken des Augustinus war bis zu seinem Tod sehr viel reicher, keineswegs auf die Prädestination beschränkt. Es wäre angemessener, obschon immer noch zu kurz gegriffen, es als Suche nach einem Gleichgewicht zwischen dem freien Willen und der Gnade zu definieren. Es gibt keinen mittelalterlichen Theologen, der nicht in gewissem Maße Augustiner gewesen wäre, und wenn auch von politischem Augustinismus gesprochen worden ist, weil man Augustinus einen großen Einfluss auf die Herrscher des Mittelalters und deren Tendenz nachsagte, «das natürliche Recht des Staates in die übernatürliche Gerechtigkeit und das Kirchenrecht» eingehen zu lassen, so hat Kardinal Henri de Lubac diese theokratische Interpretation lebhaft kritisiert. Sofern es im Mittelalter und in Europa einen politischen Augustinismus gegeben hat, sollte man ihn besser als das Bemühen definieren, eine Regierung, welche die Trennung zwischen Gott und Cäsar respektiert, mit moralischen und religiösen Werten zu durchdringen. Der Augustinismus war also eine alte Schicht der politischen Ideologie Europas, die der seinem Wesen nach diametral entgegengesetzte Machiavellismus am Ende des Mittelalters nicht vollständig hat bedecken können. Augustinus hat dem Mittelalter auch eine
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