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Die Gassen von Marseille

Die Gassen von Marseille

Titel: Die Gassen von Marseille
Autoren: Gilles Del Pappas
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hinaus ins Meer. Ich weiß, dass diese girelle schnell in die Luft geht. Und so gibt Jean-Michel auch keinen Mucks von sich, als sie mich zur Schnecke macht.
    »Ja, aber ich kann das nicht mit ansehen«, faucht sie. »Wenn du dich unbedingt umbringen willst, dann los, mach schon … Aber halt uns da raus …«
    Sie stößt mir ihren Finger fest in den Magen und wiederholt: »Ich kann das nicht mit ansehen!«
    Trübsinnig fahren wir durch die Bilderbuchnacht zurück. Alle eingeschlossen in unsere Geschichten. Ich glaube sogar, dass die beiden Turteltäubchen sich meinetwegen gestritten haben. Als wir den Pointu am Anlegesteg festmachen, springt Juanita vom Boot und verschwindet wütend, ohne sich von mir zu verabschieden.
    Ich bin überrascht und traurig. Wir beide sind schon häufiger aneinandergeraten, aber nie hat das länger als eine Stunde gedauert …
    Ich versuche mich bei Jean-Michel zu entschuldigen, aber er wirkt verbittert.
    »Warum?«
    Ich verstehe nicht.
    »Warum was?«
    Er lässt nicht locker.
    »Warum bist du so ein destrucci?« ,fragt er mich anklagend. »Warum veranstaltest du überall, wo du hinkommst, ein verdammtes Chaos? Du nervst ganz schön, weißt du das … Du solltest versuchen, dich ein bisschen zusammenzureißen, sonst stehst du irgendwann ganz allein da … Aber vielleicht ist es ja genau das, was du willst …«
    Nein, das ist nicht wahr … Auf keinen Fall …
    »Das stimmt nicht!«, protestiere ich.
    Mein Freund wendet mir absichtlich den Rücken zu. Während er das Boot vertäut, sagt er: »Doch, du merkst es nur nicht … Also …«
    Er zuckt machtlos mit den Schultern.
    »Die Leute gehen dir aus dem Weg … Sieh dich doch mal um … Und was mich angeht, hast du es jetzt auch geschafft … Juanita will dich nicht mehr sehen …«
    Ich bin völlig fertig nach diesem miesen Abend.
    Ich fahre mit dem Bus nach Hause. Kein Mensch drin, außer dem Fahrer natürlich. Draußen vor dem Fenster strahlen die Lichter entlang der Mole des Industriehafens die riesigen leeren Lagerhallen an, die bunten Eisencontainer, die ungenutzten, verlassenen Bahngleise … Heute Abend ist mein Leben einfach nur trostlos. Sogar der Industriehafen legt sich ins Zeug …
    In Les Arnavaux auf Höhe des Flohmarkts steigen ein paar griechische Seeleute ein. Ich erkenne ihre Sprache, weil ich ein Jahr lang da unten auf einer gottverlassenen Insel gelebt habe. »Gavdos«, der südlichste Felsen … Zwischen Kreta und Lybien.
    Die Seeleute fahren in die Stadt, um zu feiern …
    Ich frage mich, wie es wohl aussieht, wenn ein paar Griechen auf Landgang in Marseille einen draufmachen.
    Da kommt mir das Gedicht von Louis Brauquier in den Sinn.
     
    »Ein warmes Vergnügen fließt Straßen hinab,
    hin zum Meer
    Seeleute treffen ein, gerade erst und doch kaum fremd,
    mit weit geöffneten Armen«
     
    Er hat recht … gerade erst und doch kaum fremd … Man wird schnell aufgenommen hier in Marseille. Es dauert bloß ein paar Stunden, manchmal einen Monat oder ein Jahr … Oder ein ganzes Leben … Das hängt vom Integrationskandidaten ab …
    Auf dem Boulevard des Dames steige ich aus, biege in die Rue de la République ein, kürze durch die Traverse de Lorette ab und gehe am »Chez Etienne« vorbei. Es riecht nach frittiertem Tintenfisch, der Spezialität dieses berühmten Restaurants.
    Dann bin ich zu Hause, in der Rue du Petit-Puits.
    Ich hebe den Kopf.
    Bei Esther brennt Licht.
    Außerdem wohnt noch Gus im Haus, der Klempner. Er hat seinen Laden im Erdgeschoss und spricht mit schiefem Mund. Er hat alle Klempnerarbeiten bei mir durchgeführt, aber bis heute habe ich es nicht geschafft, ihn dafür zu bezahlen.
    »Hat keine Eile, Kleiner!«
    Esther wohnt im ersten Stock, und mir gehört der Rest des Gebäudes.
    Ich habe mir das Treppenhaus mit seinem Dachfenster unter den Nagel gerissen und den kleinen Balkon, der anfangs allen Hausbewohnern gehörte. Ein gemeinsamer Bereich, wo jeder seine Wäsche aufhängen konnte.
    Diese Wohnung habe ich mir vor sehr langer Zeit gekauft … Von meinem ersten größeren Honorar. Ich habe damals umfangreiche Arbeiten in Auftrag gegeben, Wände einreißen und die gesamten elektrischen Leitungen erneuern lassen.
    Der Kaufpreis war lächerlich niedrig. Als ich später anfing, zu ausführlichen Reportagen zu reisen, wollte ich umziehen.
    Ich habe die Wohnung vorübergehend Freunden überlassen und bin selbst für eine ganze Weile ans Meer gezogen, an die Corniche. Das war in einem anderen Leben,
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