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Die Gassen von Marseille

Die Gassen von Marseille

Titel: Die Gassen von Marseille
Autoren: Gilles Del Pappas
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damals, als ich mich noch in der Gesellschaft bewegte.
    Mittlerweile bin ich in dieses gute alte Marseiller Viertel zurückgekehrt. Am Ende hatte ich nicht mehr genug Geld, um die Miete für die Villa im Vallon des Auffes zu bezahlen. Hier wohne ich umsonst, die Wohnung gehört mir …
    Und wenigstens ist es lebendig.
    Manchmal sogar zu lebendig, aber … Darauf zu spucken ist ein Luxus, den ich mir nicht leisten kann … Ich bin auf diesen Ort angewiesen.
    Hmm! Im Hausflur riecht es lecker nach gekochten Tomaten. Das klingt nicht besonders spektakulär, aber eine gute Tomatensoße hinzubekommen ist gar nicht so leicht.
    Ich klopfe an die Tür der alten Dame.
    »Esther, ich bin’s, Constantin …«
    Sie antwortet sofort, sie muss in ihrer Küche sein. Ihre Wohnung ist typisch für das Panier-Viertel. Eine Küche, ein winziges Wohnzimmer, ein Schlafzimmer und eine finstere, fensterlose kleine Kammer.
    »Ja, ja, ich komme ja schon.«
    Die Tür geht auf, und Esther steht vor mir. Meine alte, weißhaarige Nachbarin verändert sich nicht, ungeachtet dessen, dass die Zeit vergeht … Ihr fest geschlungener Knoten, der rosige Teint, die blauen Augen, die einen geradewegs anschauen … Sie zittert zwar ein wenig, wenn sie die schweren Kessel trägt, aber sie ist noch immer gut bei Kräften.
    Dabei hat das Leben ihr nichts erspart …
    Als junges Mädchen wurde sie nach der großen Razzia in Marseille deportiert. Sie hat Dachau überlebt. Mit achtzehn Jahren kam sie unversehrt nach Hause zurück. Aber was heißt das schon – kann man überhaupt unversehrt aus der Hölle zurückkehren? Wie viele andere musste sie allein zurechtkommen … Sie hatte in den Lagern ihre gesamte Familie verloren. Vater, Mutter, Großeltern, Schwester, Onkel … Grauenhaft!
    Esther spricht niemals über ihre Vergangenheit.
    Nur durch Zufall habe ich ein paar Fetzen aus ihrem Leben vor dem Krieg aufgeschnappt. Ich hatte schon früh unter ihren Pullovern die abscheulichen blauen Nummern entdeckt, die den Opfern der Nazis auf die Arme tätowiert worden waren.
    Aber ich habe sie nie danach gefragt. Viele Menschen, die dieses Grauen durchgemacht haben, empfinden eine geheime Scham. Ich weiß nicht, warum … Vielleicht weil sie als Einzige überlebt haben … Oder weil sie immer noch der verfluchten Rasse angehören.
    Was mich besonders getroffen hat, als ich Filme über die Konzentrationslager sah, war die Verwunderung in den Augen dieser Menschen. Sie blickten drein, als wären sie überrascht. Darüber, dass sie noch am Leben waren? Wenn ich die Tätowierung auf dem Arm meiner alten Freundin sehe, sage ich nichts und stelle keine Fragen.
    Eines Tages bin ich bei Esther dann Sarah begegnet, einer kleinen, runden, freundlichen, redseligen Frau. Die beiden Freundinnen kannten sich gut, sie hatten ihre ganze Kindheit in diesem Viertel verbracht. Damals, als die Familie meiner Nachbarin noch lebte, vor dem Krieg … Ihr Vater hatte die große Bar an der Place de Lenche geführt.
    An jenem Nachmittag schien meine Anwesenheit die beiden Frauen ein wenig zu stören … Als wäre ich ein neugieriger Zuschauer, und warum sollte ich auch einen Hehl daraus machen … ich bin tatsächlich ein Voyeur. Man kann nicht jahrelang als Fotograf arbeiten, ohne auch nur einen Hauch voyeuristisch veranlagt zu sein …
    Sie tauschten Erinnerungen aus, und ich hielt mich beeindruckt zurück, während die beiden Frauen schwatzten.
    Sarah klagte darüber, dass es schwer gewesen sei, Esther wiederzufinden …
    »Ich wusste, dass du zurückgekommen warst … Ich habe dich da gesucht, wo du früher gewohnt hast … Ziellos bin ich durch die Straßen gelaufen, es war zum Verrücktwerden … Ich hatte ja keine Ahnung, wohin ich gehen sollte, da bin ich aufs Geratewohl in der Gluthitze diese halsbrecherischen Gässchen rauf- und runtergestiegen.«
    Um ihre Worte zu illustrieren, bewegt sie eine Hand von oben nach unten, als spielte sie mit einem Kinderauto.
    »Ich bin durch ganz Marsiale gelaufen, um dich zu finden. Und irgendwann sehe ich dich dann da sitzen und mit ein paar jungen cacous einen Pastis in der alten Bar deiner Eltern schlürfen …«
    Esther lächelt zufrieden.
    »Oh ja, letzten Endes bin ich doch wieder dahin zurückgekehrt, wo ich vor … nun ja, vor langer Zeit geboren wurde …«
    Sie spielt die Kokette. Ich mische mich verwundert ein.
    »Sie sind im Panier geboren, Esther? Ich wusste gar nicht, dass Sie hier aus dem Viertel stammen.«
    Ein Schleier legt sich
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