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Die Gassen von Marseille

Die Gassen von Marseille

Titel: Die Gassen von Marseille
Autoren: Gilles Del Pappas
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Und er trinkt jeden Tag. Er trinkt auf der Straße, er trinkt bei den Leuten, er trinkt in den Kneipen, er trinkt überall. Es hat sich aber noch nie jemand über ihn beschwert, daran sieht man, wie nachsichtig die Leute hier bei uns sind.
    Eines windigen Tages gehe ich nach draußen und finde ihn schwankend vor der Haustür.
    »Ah, Constantin, ich habe einen Brief für dich.«
    Er hält sich an mir fest, kann kaum allein stehen. Ich schiebe ihn zurück, denn obwohl der Wind die verschmutzte Luft aus der Stadt treibt, riecht sein Atem bedrohlich nach Pastis.
    »Warte! Ich gebe ihn dir gleich.«
    Er öffnet seine Umhängetasche mit den unbeholfenen Gesten eines Betrunkenen.
    Eine Katastrophe. Ein endloser Papierdrachen aus Hunderten weißer Rechtecke mit aufgeklebten Briefmarken steigt aus seiner Tasche auf und schwingt sich hinauf in den schwarzblauen Mistralhimmel.
    Sehr hübsch.
    Um sie wiederzufinden, mussten wir alle Kinder der Straße rekrutieren. Meinen Brief habe ich allerdings nie bekommen … Der fliegt sicher immer noch irgendwo zwischen Marokko und Algerien herum … Was soll’s, vielleicht war es ja eine Rechnung …
    Ich wundere mich also nicht besonders, als ich sehe, dass das Paket halb geöffnet ist. Ich schaue hinein. Es enthält nur ein Flugblatt, obwohl das Format mindestens ein Buch vermuten ließ. Neugierig lese ich den Zettel. Es ist eine billige, reißerische Werbung, die eine Tunesienreise in den höchsten Tönen preist … Ursprünglich war bestimmt auch noch ein Katalog in dem Paket, der durch die Auswirkungen von Nonos Alkoholsucht inzwischen verschollen ist. Wie gewöhnlich fluche ich über meinen Briefträger und die Post, die ihn doch endlich in den Vorruhestand versetzen könnte …
    Auf den ersten Blick hatte ich keine Werbung vermutet, da mir die Schrift auf dem Paket irgendwie bekannt vorgekommen war.
    Ich muss mich irren.
    Eilig werfe ich alles weg. Ich habe keine Lust, Urlaub in Tunesien zu machen … Erstens bin ich pleite, und zweitens habe ich noch nie in dieser Art von Clubs Urlaub gemacht und werde auch bestimmt nicht so schnell damit anfangen. Außerdem … wird der Gedanke an Urlaub erst reizvoll, wenn man arbeitet … Und das ist im Moment nicht gerade meine Hauptbeschäftigung. Aber was ist eigentlich meine Hauptbeschäftigung?
    That’s the question!
    Ich springe unter die Dusche, rasiere mich, mache mich hübsch … Warum? Für wen?
    Fang jetzt nicht mit solchen Fragen an! Du machst dich eben hübsch … Für dich, für deine Freunde, für die Frauen, die vielleicht morgen …
    Ich spüre, wie eherne Vorsätze in meiner Brust Gestalt annehmen.
    Aber wie sollen einen die anderen lieben, wenn man sich selbst nicht mag? Wenn man in seinem Inneren tot ist, verbrannt, pulverisiert …
    Am Spiegel hängt ein Foto von Juliette. Sie schaut mich traurig an. Das war nach ihrem letzten Rückfall … Kurz bevor der Himmel in einer glühenden blaugoldenen Flamme auf mich herabstürzte … Ihr seidiges, herrliches, sich unter meinen Fingern so lebendig anfühlendes Haar ist gewachsen … Sie trägt einen Herrenanzug, hält einen Champagnerkelch in der Hand und schaut mich von unten her an. Ihr Blick ließ mich stets dahinschmelzen wie ein Marshmallow. Ich habe noch nie jemanden mit einem solchen Blick gesehen. Das Foto wurde während des Kurzfilmfestivals »Écart« aufgenommen. An jenem Tag habe ich in Marseille einen Regiepreis für meinen ersten Kurzfilm, »Roxane«, bekommen.
    Du siehst mich an, als fändest du diese gesellschaftliche Belohnung unreif und amüsant. Du, die mit der dunklen Macht der Drogen gespielt hat … Ich, der Jungfilmer, der so stolz darauf war, von meinen Standesgenossen ausgezeichnet zu werden, musste dir lächerlich erscheinen. Aber du liebtest mich, und du liebst mich noch immer. Heute halte ich das nicht mehr aus, ich will nicht länger mit dir leben.
    Ich vertreibe dich aus meinem Leben.
    Du Hexe, du Vampir, du wirst mich nicht mehr weiter vergiften. Raus aus meinen Erinnerungen, raus aus meinem Blut. Ich sehe doch, dass du nicht brav im Korridor schmerzhafter Erinnerungen bleiben willst … Nein, du musst ja unbedingt in jeder einzelnen Zelle meines Körpers sein.
    Ich nehme das Foto vorsichtig in die Hand, reiße es in vier gleich große Stücke und werfe es in den Müll. Ich halte es nicht mehr aus, an sie zu denken.
    Juanita hat recht. Plötzlich will ich mich mit der jungen Kreolin versöhnen. Ich handle, ich fühle mich ungemein aktiv und positiv
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