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Die Gassen von Marseille

Die Gassen von Marseille

Titel: Die Gassen von Marseille
Autoren: Gilles Del Pappas
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über ihre Augen.
    »Doch, doch … Meine Eltern hatten die große Bar an der Place de Lenche … Ich habe an der Theke bedient … Einmal habe ich mich in den Finger geschnitten …«, fügt sie zusammenhanglos hinzu.
    Sie schaut ihre Freundin an.
    »Ja, ja, meine Hübsche. Damals waren wir noch jung …«
    Stille. Die beiden Frauen schweigen … Aber es dauert nicht lange, dann spricht Sarah weiter.
    »Es war Zufall, ja … Aber auch Doumé, der Sohn von Loule …«
    »Ach Gott, der gute Doumé«, spottet Esther herzlos.
    Sarah lacht. Vielleicht sollte man erwähnen, dass »gut« in der Provence nicht unbedingt ein Kompliment bedeutet.
    »Ja, der hat nicht gerade das Pulver erfunden!«, fügt Sarah hinzu. »Und der alte Loule, sein Vater … Was war der doch knauserig, der alte Geizhals …!«
    Wieder lachen sie … Sarah erzählt weiter.
    »Kennst du eigentlich die Geschichte von seinem Umzug? Mein Vater, Toinou, hat ihm dabei geholfen. Weißt du noch, wie damals dreiundvierzig alle wegmussten? Mein Vater hatte einen Handkarren … Du weißt doch noch, wie wichtig damals ein kleiner Karren war … Also hat er seinen Nachbarn geholfen … Für den alten Loule hat er mehrere Fuhren schwere Kartons weggebracht, als hätte der Alte Leichen darin verpackt! Du glaubst gar nicht, wie sie sich mit diesen Kartons abgeschleppt haben. Dabei war mein Vater ein kräftiger Kerl … Bei der letzten Fuhre hat er ihn endlich gefragt: ›Sag mal, Loule … Was hast du denn da in den Kartons?‹ – ›Bücher‹, erwiderte der Alte, als wär’s ein Spaß. Mein Vater war erstaunt … Er konnte sich Loule nicht mit einem Buch in der Hand vorstellen … ›Was? Wir schleppen uns hier mit einer Wagenladung Büchern ab? Was für Bücher sind das denn? Die müssen ja ganz schön wichtig sein!‹ – › Té, meine alten Telefonbücher natürlich …‹ Und dann hat er noch angegeben: › Fan de chichourle, seit den Urzeiten des Telefons … Meine ganzen Telefonbücher seit … keine Ahnung … immer schon …‹«
    Wir amüsieren uns königlich über die Anekdote. Sarah unterbricht ihr Kichern nur, um noch den Epilog nachzuschieben.
    »Ich weiß nicht, wie mein Vater sich beherrschen konnte, dass er ihm nicht einfach eine gescheuert hat … Der Kerl hat ihn den ganzen Vormittag lang alte Telefonbücher schleppen lassen!«
    Wir lachten uns halb tot …
    Schließlich vergaßen die beiden, dass ich da war, und ließen die Erinnerung an ihre Vergangenheit wieder aufleben … Die Sonntagsspaziergänge mit ihren Freundinnen … Die Mädchen zusammen und die Jungs zusammen. Ich kann mir gut vorstellen, was es da an engatses, espinchades und furades gegeben hat … Die jungen Leute gingen auf die »Caneb«, wie man in Barcelona auf die Ramblas geht … Oder in die Kinos … Und dann – ich weiß nicht mehr, wie – kamen die beiden Freundinnen auf die Straßenbahnen zu sprechen, die das Stadtbild belebten. Ihre großen Werbetafeln priesen die Nudeln von »Rivoire et Carret«, deren Lager Richtung Arenc lagen, den »Amer Picon«, der aus den Orangen hergestellt wurde, die sich in regelmäßigen Abständen in einer farbenfrohen Flut auf die Kaianlagen ergossen, »Zan«-Lakritze oder »Thermogène«, diese unglaubliche, Wärme erzeugende Watte des Feuer speienden Teufels. Sie erwähnten originelle Gestalten, der »Orchestermann« etwa, die »Kerzen«, hochgewachsene Zwillinge, und im Gegensatz dazu die »Kleinen von Longchamp«. Und dann noch den »Bronzemann« vom Marché des Capucins, »Etienne le fada «, der beliebte Volksweisen sang, den »Mann in Weiß«, der sein Knopfloch stets mit einer roten Blüte schmückte, die Schuhputzer, die Fuhrleute, die Messerschleifer, die Glaser, die Porzellanflicker, die Brousses-du-Rôve-Verkäufer mit ihren glockengeschmückten Kühen, die Sänger, die sich selbst auf dem Akkordeon begleiteten …
    Die beiden Schwatztanten fanden kein Ende … Dank ihres Wiedersehens habe ich viel über meine Stadt gelernt … Während ich ihnen zuhörte, träumte ich von den für immer verlorenen Zeiten, von jener Seele, die Marseille unausweichlich mit jedem Tag ein wenig mehr verlor … Ein starkes Wehr war gebrochen und hatte eine Fülle von Bildern, Anekdoten, Gerüchen und Klängen freigelassen, die Esther in ihrem Inneren bewahrte …
    So hatte ich erfahren, dass sie im Panier geboren war. Aber heute Abend wirkt meine alte Nachbarin traurig. Ich spüre, dass sie in Gedanken ist. Dabei freut sie sich sonst immer,
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