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Die Gassen von Marseille

Die Gassen von Marseille

Titel: Die Gassen von Marseille
Autoren: Gilles Del Pappas
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mich zu sehen.
    Sie führt mich in ihre Küche.
    Auf dem Tisch steht ein herrlicher Strauß roter Rosen. Esther liebt rote Rosen.
    »Das sind ja schöne Rosen!«
    Auf dem Herd steht ein Schmortopf aus Ton, in dem meist Pieds-Paquets vor sich hin köcheln. Der Duft, der daraus entweicht, kitzelt meinen Gaumen.
    Ein Gegenstand erregt meine Aufmerksamkeit. Es ist ein Hammer, der, frisch abgewaschen, nun zum Trocknen auf der Spüle liegt. Er ist zwar ein ganz gewöhnliches Werkzeug, aber hier eindeutig nicht an seinem Platz, und das irritiert mich. Außerdem hat Esther ihn mit Javelwasser geschrubbt. Ich rieche ganz deutlich den sauberen, charakteristischen Geruch meiner Kindheit. Seltsam … Warum reinigt sie einen Hammer mit Javelwasser? Aber ich bin die kleinen seltsamen Eigenheiten meiner Nachbarin gewohnt.
    »Na, Kleiner, gehst du spazieren?«
    Heute Abend ist etwas anders. Sie wirkt irgendwie merkwürdig. Weicht mir aus.
    Ihr Verhalten verwundert mich, was sonst gar nicht ihre Art ist. Für gewöhnlich schaut sie mir mit ihren Porzellanaugen geradewegs ins Gesicht, ohne zu blinzeln.
    »Oh, Esther, qué me dies?«
    Ich küsse sie zur Begrüßung.
    »Den herrlichen Duft riecht man bis draußen auf die Straße … Was haben Sie denn heute Abend Leckeres gezaubert? Pieds-Paquets?«
    Sie schaut mich einen Moment lang an, dann kramt sie in ihrer Blusentasche. Bestimmt sucht sie ein Taschentuch.
    »Kaninchen à la provençale mit Steinpilzen und Polenta. Genauso, wie meine Mutter es mir beigebracht hat … Soll ich dir einen Teller herrichten?«
    Das ist ein Ritual zwischen uns. Esther kocht immer riesige Mengen, die sie dann verteilt. Zu meiner größten Freude vor allem an ihren Nachbarn … Pieds-Paquets, Gemüsesuppe mit Basilikum, gefüllte Tintenfische, Aïoli, Schnecken »a l’aigo soun leï limaçons«, Polenta und so weiter …
    Manchmal finde ich auf meiner Fußmatte einen Teller – immer den gleichen, mit bunten Vögeln darauf, die im Äther vor sich hin zwitschern –, bedeckt von einem zweiten, den eine einfarbig blaue Jagdszene ziert. Und zwischen den beiden befindet sich die Überraschung …
    Nie, was die Qualität angeht. Die Qualität ist immer gleich hervorragend … Aber beim Geschmack, den zarten Düften dieser liebevoll zubereiteten, tausendfach immer wieder neu gekochten Gerichte, die miteinander verschmelzen, aufeinanderprallen, einander durchdringen … Kurz, wenn der Hunger meinen Gaumen kitzelt und Esther mir etwas zu essen anbietet, sage ich nie nein.
    »Sollen wir nicht die Gelegenheit nutzen und eine kleine Feier daraus machen?«, frage ich. »Sie könnten hochkommen und bei mir essen.«
    Sie errötet und spielt wieder mal die Schüchterne.
    »Ich bin allein«, bemühe ich mich, sie zu überreden. »Und ich bin ziemlich deprimiert. Außerdem habe ich das Gefühl, dass Sie auch etwas neben der Spur sind. Oder täusche ich mich?«
    Esther scheint zu zögern, bevor sie antwortet.
    »Du hast recht, ich bin ziemlich durcheinander. Vielleicht liegt’s an der Hitze. Als ich nach Hause gekommen bin, war ich völlig durchgeschwitzt … Und meine Füße waren geschwollen.«
    Sie schüttelt den Kopf.
    »Meine Güte, war das heiß heute … Aber ich will gerne mit dir essen … Auch wenn ich todmüde bin.«
    »Könnten Sie vielleicht mal nachsehen, ob die Polenta auch für drei reicht, wenn das nicht zu unverschämt ist?«, wage ich mich vor. »Ich wollte gerade Philippe anrufen und ihn fragen, ob er heute Abend Zeit hat, denn ich muss dringend mit ihm reden.«
    Sie sieht mich erfreut an. Die beiden mögen sich. Sie kennen sich aus der Zeit, als er bei mir gewohnt hat.
    »Das Kaninchen und die Polenta sind kein Problem, zwei, drei … Du weißt doch, dass ich immer großzügig rechne … Aber das ist doch bestimmt ein estrambord für dich, nicht wahr, quicou ?«
    Esther hat immer Angst zu stören.
    »Ach was, ich habe gern Besuch von Freunden. Außerdem haben Sie beide sich schon lange nicht mehr gesehen, oder? Ich springe nur noch schnell unter die Dusche, dann rufe ich ihn an. Bis gleich!«
     
    Ich gehe hinauf.
    Ein Paket steht gut sichtbar auf meinem Tisch. Bestimmt hat Esther es von Nono, unserem Briefträger, angenommen.
    Na ja, Briefträger …
    Nono ist vor allem ein unverbesserlicher Säufer. In unserer Straße gibt es nur dann Post, wenn er halbwegs nüchtern ist. Er ist um die fünfzig und ein netter Kerl, aber wenn er getrunken hat, kann man ihm nicht einmal ein Karamellbonbon anvertrauen.
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