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Die Frühreifen (German Edition)

Die Frühreifen (German Edition)

Titel: Die Frühreifen (German Edition)
Autoren: Philippe Djian
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entwischen und durch den Wald zu laufen, die Straße entlangzugehen oder egal was zu tun, anstatt das noch eine Minute länger zu ertragen.
    Unterdessen warf Marlène Aramentis einen Blick auf ihre Armbanduhr und schaute dann zum Himmel auf, der sich schon rötete, während eine Schar von entfesselten Blagen wie die Wilden durch ihren Garten rannten oder versuchten, entgegen ihren Anweisungen das Haus zu betreten.
    »Du machst uns richtig krank«, erklärte Andreas. »Die arme Sau, die dich mal heiratet, tut mir jetzt schon leid.«
    Einen Augenblick danach verließen sie Michèles Zimmer. Während sie die Treppe hinabgingen, riet ihr Andreas zu vögeln wie alle anderen, denn die Sache werde allmählich abartig, aber Michèle weigerte sich, darüber zu diskutieren, sie weigerte sich wieder einmal hartnäckig, über dieses Thema zu sprechen.
    Im Wohnzimmer stießen sie unverhofft auf Anaïs Delacosta, und Evy sprang ihr an die Gurgel.
    Anaïs mit ihren achtzehn Jahren war ein unförmiges Mädchen von etwa zwei Zentnern, aber sie war erstaunlich gewandt und kannte keine Hemmungen. Sie versetzte Evy mit ihrer wulstigen rosa Faust einen Schlag ins Gesicht, so daß er gegen das Bücherregal geschleudert wurde.
    »Reg dich bloß nicht auf«, sagte sie zu ihm. »Ich habe die Sachen wieder an ihren Platz gelegt.«
    Der Anblick des Bluts störte sie nicht im geringsten, im Gegensatz zu Marlène, die einen Schrei ausstieß und ein Taschentuch aus ihrem Ärmel zog, als sie auf diese Szene stieß. Ganz allgemein gesehen war Anaïs Delacosta unempfindlich gegen den körperlichen Schmerz anderer, da sie selbst unentwegt den schlimmsten Qualen ausgesetzt war.
    Sie war bereit, ihm noch einmal eine reinzusemmeln, falls er scharf darauf war. »Dieser kleine Scheißer«, sagte sie zu sich selbst und öffnete ihre Faust, die so steif war, als hätte sie sie in Eis getaucht. Anaïs war schon immer der Ansicht gewesen, daß Evy ein bißchen zu oft dagewesen, ein bißchen zu viel um Lisa herumgestrichen war, als diese noch lebte, so sah sie die Sache jedenfalls, und daher hatte sie ihm jetzt die Rechnung präsentiert und alles auf einmal heimgezahlt. Marlène Aramentis forderte Evy auf, den Kopf in den Nacken zu legen. Anaïs bereute nichts.
    Ein paar Stunden zuvor, am frühen Morgen, war sie auf die Gefahr hin, sich das Genick zu brechen, in den Baumwipfel geklettert. Auf einfachen Holzsprossen, die direkt auf den Stamm genagelt waren und inmitten des funkelnden Laubs zu den oberen Ästen führten. Früher gelangte man auf einer Strickleiter dorthin, die Richard angebracht hatte, um seine Kinder zu besuchen, wenn er dazu fähig war – nichts war so schön in seiner Erinnerung, nichts so stark wie die Nächte, die er dort mit den beiden unter freiem Himmel verbracht hatte, nur mit einer Decke und einer Creme gegen Mückenstiche ausgerüstet, fern von allem, völlig unerreichbar, in Sicherheit vor dem Chaos und den Kriechtieren, die es damals sehr zahlreich gab.
    Anaïs hatte zu der Plattform aufgeblickt und gespürt, wie ihr der Schweiß durch die Kimme rann. Sie war allein. Wenn eine der ziemlich wurmstichigen Sprossen unter ihrem Gewicht nachgab, sie hinabstürzte und sich weh tat, war die Chance, daß man sie fand und ihr zu Hilfe kam, sehr gering, das war ihr klar.
    Richard hatte einen alten menschenfeindlichen Hippie namens Dany Clarence, der umgeben von streunenden Hunden auf der anderen Seite des Hügels in einer Art Dschungel aus Dornensträuchern lebte, angeheuert, um ihm zu helfen, sein Vorhaben zu verwirklichen. Er entschied sich für eine große Roteiche, die von einem Dickicht aus Hainbuchen umgeben war und ziemlich abseits stand, um seinen Kindern den Eindruck zu verschaffen, daß man sie dort in Ruhe ließ – er selbst suchte noch immer verzweifelt nach einem Zufluchtsort, wo kein Echo von ernsthaften Dingen mehr an seine Ohren drang –, und nach zwei Wochen harter Arbeit betrachteten sie zufrieden – und völlig erschöpft, was Richard anging – die Früchte ihrer Arbeit. Man gelangte durch eine Klapptür auf die Plattform. Und Laure erklärte ihn für verrückt.
    Anaïs war einmal zuvor dort oben gewesen, als sie Lisa kennenlernte, aber nur, um ihr eine Freude zu machen und Hasch zu rauchen, denn ansonsten hatte sie Besseres zu tun, als auf Bäume zu klettern – wo alles knarrte und unter ihrem Gewicht zusammenzubrechen drohte. Außerdem fand sie, daß Lisa aus diesem Alter heraus war und Baumhütten höchstens etwas
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