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Die Frühreifen (German Edition)

Die Frühreifen (German Edition)

Titel: Die Frühreifen (German Edition)
Autoren: Philippe Djian
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schutzlos.
    Da Evy gesehen hatte, wie sein Vater beim bloßen Einschlagen eines Nagels Schweißausbrüche bekam, beim Zersägen von ein paar Brettern vor Erschöpfung bleich wurde und beim Blick in die Tiefe erschauerte – sich aber weigerte, zuzugeben, daß er sich übernommen hatte, und die Arbeit mit dem Mut der Verzweiflung fortsetzte –, hatte er eine besondere, innige, wenn auch etwas konfuse Beziehung zu dieser Konstruktion. Er kannte jede einzelne Sprosse, wußte, wie ungenau sie angepaßt oder wie uneben sie war. Sie war ihm sogar lieber als die Strickleiter, die sich seinerzeit als unerläßlich erwiesen hatte – nach ein, zwei harmlosen Stürzen hatten manche überbesorgte Eltern Richard inständig gebeten, sein System zu verbessern, wo sie doch gerade erreicht hatten, daß die Bremsschwellen auf der Fahrbahn erhöht und die nächtlichen Patrouillen verdoppelt wurden –, und er klammerte sich noch immer mit einem Gefühl vollkommener Sicherheit und heimlichem Vergnügen an diese Sprossen. Als Richard sich darangemacht hatte, besagte Sprossen anzubringen, war er schon seit langem kaum mehr fähig gewesen, eigenhändig irgendwelche handwerklichen Arbeiten zu verrichten. Evy erinnerte sich, daß sein Vater manchmal mehrere Tage lang untätig in seinem Arbeitszimmer verbracht hatte, mit halb geschlossenen Augen regungslos auf dem Sofa zusammengerollt geblieben war, und daher war der Bau dieser Plattform und ihr akrobatischer Zugang im Dasein der Trendels geradezu ein Wunder und zugleich der Beweis dafür, daß noch nicht alles endgültig in die Brüche gegangen war, doch daß Anaïs den Baum hinaufgeklettert und ihr ganzes Gewicht nur auf den beiden Zimmermannsnägeln geruht hatte, die seit fünf Jahren Sturm und Regen ausgesetzt waren, war kaum vorstellbar.
    Evy setzte den Fuß auf die Plattform und sagte sich, daß er die Klapptür mit einem festen Vorhängeschloß versehen müsse.
    Es handelte sich um eine große Tupperwaredose, deren Plastikdeckel vergilbt war. Sie enthielt zahlreiche Fotos von Lisa und einige ihrer persönlichen Gegenstände, die Evy gerettet hatte, ehe alles übrige im Dunkel der Blechtruhen verschwand, die im Keller gleichsam Wurzeln schlugen: eine Haarbürste, einen Lippenstift, eine weiße Baumwollbluse, ihre Milchzähne, einen Lederhandschuh – der andere war von der Stahlkufe der Schlittschuhe zersäbelt worden –, ihren Paß, Unterhöschen und ein T-Shirt, das ihr als Nachthemd gedient hatte.
    Nichts fehlte, dennoch überprüfte er die Fotos, während Andreas, der inzwischen auch hinaufgekommen war, sich mit den Ellbogen auf die warmen Bretter stützte und in das schwächer werdende orangefarbene Licht blinzelte.
    »Das macht sie, um dich zu nerven. Nur um dich zu nerven. Sie ist total bescheuert, das habe ich immer schon gesagt.«
    Evy war ratlos, aber auch er fand keine andere Erklärung. Wie viele andere hatte er seit jeher den Eindruck, daß Anaïs nicht ganz normal sei, daß ein so pummeliges Mädchen nicht derselben Welt angehöre wie die anderen und man sich vor ihr in acht nehmen müsse.
    Er war schon lange nicht mehr hiergewesen, vielleicht seit einem Monat. Auf jeden Fall wurden die Abstände immer größer. Und plötzlich hatte ihn Anaïs brutal aus seiner Benommenheit gerissen. »Ich brauche deine Erlaubnis nicht«, hatte sie mit herausfordernder Miene erklärt. »Halt dich bloß nicht für den Hüter von irgendwas, hörst du?« Mit achtzehn Jahren hatte Anaïs Delacosta schon Narben im Gesicht. So unglaublich sich das auch anhören mochte. Und Evy hatte keine Lust, schon am frühen Morgen in aller Öffentlichkeit eine Tracht Prügel zu bekommen.
    Vermutlich wog er nicht einmal halb so viel wie Anaïs. Er machte sich keine Illusionen. Aber es war besser, die Wut, die ihn erfüllte, bei einer günstigeren Gelegenheit an ihr auszulassen, wenn er sich diese Erniedrigung ersparen wollte. »Darüber sprechen wir später«, hatte er ihr zur Antwort gegeben, ehe er in seinen Klassenraum ging, um eine Kröte zu sezieren.
    Er betastete seine leicht angeschwollene Nase. Wie vorhergesehen, war die Auseinandersetzung nicht zu seinen Gunsten ausgegangen, aber er hatte den Eindruck, daß die Botschaft angekommen war.
    »Glaubst du, du schaffst das?« seufzte Andreas. »Glaubst du das wirklich? Ist dir auch klar, wie dick die Fettschicht ist, durch die du hindurchmußt?«
    Die Hände hinterm Kopf verschränkt, streckten sie sich eine Weile unter dem gleichförmig blauen
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