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Die Frühreifen (German Edition)

Die Frühreifen (German Edition)

Titel: Die Frühreifen (German Edition)
Autoren: Philippe Djian
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Himmel in der Sonne aus. Es war nicht mehr ganz so bequem wie früher, denn die Bretter waren aus den Fugen gegangen, aber der Eindruck, in einem Nest zu liegen, dessen Ränder aus rötlichem Laub gebildet wurden, war noch genau der gleiche, und auch wenn sie nicht mehr so stark daran hingen und sich für andere Dinge interessierten, seit sich ihnen eine neue Welt aufgetan hatte, wußten sie dennoch hin und wieder das große Werk von Richard Trendel, der besser unter dem Namen der Fliegende Zimmermann bekannt war, zu schätzen – vor allem wenn sie Hasch und Bier mitbrachten.
    Ohne gleich von Magie reden zu wollen, ließ es sich nicht leugnen, daß sogar Michèle ihnen, wenn sie sich dort oben trafen, mit etwas mehr Phantasie einen blies, möglicherweise regten die Sterne sie an oder die mit Chlorophyll gesättigte Luft, wer weiß, oder aber die natürliche Dunkelheit, die von einem reinen, leicht nach Harz duftenden Hauch erfüllt war. »Trotzdem frage ich mich«, fuhr Andreas fort, »ob sie es nicht absichtlich tut. So blöd kann man doch nicht sein. Es ist doch keine Hexerei, ein bißchen cooler zu sein.«
    Einer plötzlichen Eingebung folgend, nahm er sein Handy und fragte sie, ob sie nicht kommen wolle, aber sie antwortete, das sei unmöglich, weil ihre Mutter das Geschrei und den Trubel von etwa fünfzehn entfesselten Kindern allein nicht mehr ertrug – die beiden Studentinnen waren in den Swimmingpool geworfen worden und hatten in den Duschen Zuflucht gesucht.
    »Du läßt dir eine Gelegenheit entgehen, uns zu zeigen, ob du Fortschritte gemacht hast«, erklärte er ihr.
    Er beendete das Gespräch mit einer Grimasse und lockerte seinen Kragen wegen der Hitze, die von dem Bretterboden ausging. Sie hatten einen ungehinderten Blick auf die Wälder. Die Villen, obwohl luxuriös und von ansehnlichen Ausmaßen, waren unsichtbar, in einem Blättermeer in noch lebhaften Farben versunken, Zinnoberrot, Tannengrün und Goldgelb, nur die abschüssige Straße bildete darin eine unnatürlich steile Senkung. Im Winter konnte man zwischen den Stämmen des Hochwalds den See sehen, das Glitzern des reglosen Wassers in der kalten Luft.
    Evy warf noch einmal einen Blick auf die Sachen seiner Schwester, dann schloß er die Dose, während Andreas ihm stirnrunzelnd dabei zusah, denn er fand die Sache mit den Reliquien ziemlich morbid – die Freundin seiner Mutter transportierte die Asche ihrer Eltern in Urnen, und das ist wirklich zum Kotzen, finde ich, versicherte er, wenn ich an ihre verkohlten Schädel denke, an ihre verbrannten, in Asche verwandelten Gedärme. Pfui Teufel!
    Evy nahm die Dose, deren Verschluß garantiert hermetisch war, wie die Firma seit Beginn der fünfziger Jahre Millionen von Anhängern auf der ganzen Welt bescheinigte – seit dem Tag, an dem Brownie Wise die erste Heimvorführung veranstaltet und die erste Bestellung entgegengenommen hatte –, und schob sie in das schwärzliche, schwammige Astloch, das er zu diesem Zweck geduldig erweitert hatte, und bedeckte die Dose mit einer Handvoll trockener Blätter. Als sie ein paar Jahre zuvor noch regelmäßig hierhergekommen waren, hatten sie dieses Versteck schon für Bierflaschen und das Kraut benutzt, das Anaïs ihnen mit Lisas Zustimmung verkaufte – und dann tobten sie sich in einer Höhe von sieben oder acht Metern über dem Erdboden total zugedröhnt auf einer Plattform aus, deren Geländer nicht höher als fünfzig Zentimeter war, so daß die Besorgnis mancher degenerierter Eltern objektiv gesehen nicht ganz unberechtigt war.
    Dadurch, daß Anaïs die Nische, in der Lisas Sachen untergebracht waren, mit ihren gräßlichen Pranken geschändet hatte, bewies sie, daß sie wirklich nichts taugte. Und daß diejenigen, die sie als ein tiefsinniges Wesen, das zu echten Gefühlen fähig war, betrachteten oder sie wenigstens als Vertrauensperson ansahen, sich gründlich irrten.
    »Wie wär’s, wenn wir Rasierklingen hineintäten?« schlug Andreas vor.
    Es wurde allmählich dunkel, und aus der Ferne drang der Geruch eines Holzfeuers herüber – vermutlich aus der Hütte von Dany Clarence, der gegen die Feuchtigkeit ankämpfte, die schon in den ersten Herbsttagen, ob Altweibersommer oder nicht, den anderen Hang des Hügels einhüllte.
    Brigitte, die Frau, die mit Andreas’ Mutter zusammenlebte, seit er vier war, goß den Rasen und rauchte dabei eine Zigarette. Gegenüber tranken die Fortvilles ein Glas Wein mit Freunden, und ihre Kinder rannten von einem
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