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Die Frühreifen (German Edition)

Die Frühreifen (German Edition)

Titel: Die Frühreifen (German Edition)
Autoren: Philippe Djian
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ihrem Weg befand, mitgerissen hatten. Diese Sintflut hatte, nebenbei gesagt, immerhin acht Menschen das Leben gekostet, das war keine Kleinigkeit. Und zweiundsiebzig andere pflegten ihre Wunden und ihre Beulen im Krankenhaus.
    Der Geruch nach Moder und stehendem Wasser lag in der Luft. Es würde vermutlich noch einen guten Monat dauern, ehe man wieder die Füße ins Trockene setzen konnte. Aber in den letzten Tagen war der Wasserspiegel merklich gesunken.
    Sie glitten langsam an Dany Clarences Bruchbude vorbei, die bis zum ersten Stock unter Wasser stand und von deren Dach ein Fischreiher aufflog, der den Hals eingezogen hatte. Weiter oben konnte man trotz des Schnees den steilen, felsigen Hang erkennen, wo sie auf Danys Rückkehr gewartet hatten, bis sich der Regen plötzlich in einen katastrophalen Wolkenbruch verwandelt hatte.
    Die Sonne plätscherte ringsumher, blubberte gegen die Lamellen der Fensterläden, aber der Anblick blieb ziemlich trostlos und bot sich ihnen in einer unheilvollen, angespannten Stille dar, die nur von den hinabfallenden Tropfen der Stake unterbrochen wurde, die Anaïs in regelmäßigen Abständen ins Wasser tauchte.
    Fünfhundert Meter von dort entfernt erreichten sie die Brücke, neben der die Fluten Dany Clarence und Gaby Gurlitch überrascht hatten, während sie auf der Rückbank kräftig am Wirken waren – Inspektor Chose zufolge hatte man nicht einmal ihre Slips wiedergefunden –, nur weil Dany es vorgezogen hatte, sich vor den anderen zu bedienen, und diese kleine Extratour war sie teuer zu stehen gekommen. Aller Wahrscheinlichkeit nach hatte sie eine Schlammlawine gegen einen Brückenpfeiler geschleudert, und sie hatten nicht einmal Zeit zum Luftholen gehabt.
    Evy spürte, wie sich ihm die Kehle zuschnürte. Aus Spargründen hatte die Stadt beschlossen zu warten, bis das Wasser abfloß, ehe man sich um das Wrack kümmerte, und sie glitten über den eisernen Sarg, der im Schlamm ruhte, und setzten den Weg fort, während die verschwommene, schmutzig weiße Silhouette, die von einem eierschalenfarbenen Opel Astra stammte, allmählich ihren Blicken entschwand.
    Dieser Weg war der kürzeste. Sonst hätten sie einen großen Umweg machen müssen, und sie wollten schnell handeln und vor Anbruch der Dunkelheit wieder zu Hause sein, unter anderem wegen der Kälte, die mit einem Schlag einsetzte, sobald die Sonne unterging.
    Evy wechselte einen Blick mit jedem der drei anderen. Er hätte es schön gefunden, wenn er ihnen hätte sagen können, daß Gaby nicht weit entfernt war und daß es ihm scheißegal war, was sie davon hielten, aber er empfand nicht wirklich die Notwendigkeit, es zu tun.
    Manchmal fühlte er sich wie ein Fisch auf dem Trockenen. Als hätte er so lange auf dem Boden eines Boots gezappelt, bis er blau wurde.
    »Alter, paß auf, daß du dir nicht die Eier abfrierst, das Wasser ist saukalt«, sagte Andreas grinsend, während er seine weiße Hand aus dem eisigen, grünen Wasser zog.
    Die Eier abfrieren? Evy mußte innerlich ebenfalls lachen.
    Er stand auf und zog sich bis auf die Unterhose aus, während Anaïs das Boot direkt auf das Bootshaus zusteuerte, das früher am Ufer eines Sees gestanden hatte, in dem Lisa unter mysteriösen Umständen ertrunken war.
    Die Wassertiefe betrug etwa einen Meter. Sie stellten fest, daß das Dach zum großen Teil eingestürzt war, und beschlossen, das als gutes Zeichen anzusehen – wenigstens konnte man dann etwas erkennen.
    Evy blieb sitzen, während die anderen die Tür mit einem Kuhfuß aufbrachen, so daß das Vorhängeschloß in die Luft geschleudert wurde. Trotz der strahlenden Sonne spürte er auf dem Rücken die kribbelnde Kälte. Vor noch gar nicht so langer Zeit war ihm der bloße Gedanke, das Wasser dieses Sees zu berühren, unerträglich gewesen, und jetzt schickte er sich an, hineinzuspringen und ganz darin unterzutauchen. Da erklär sich einer mal diese Wandlungen, diese widersprüchlichen Handlungen, und doch begegnet uns das jeden Tag, wir werden regelmäßig und unermüdlich Zeugen davon, daher dürfte uns doch eigentlich nichts mehr erstaunen, oder?
    Andreas hatte ihn gefragt, ob seine Kehrtwendung etwas mit der Tatsache zu tun hatte, daß die Fluten, in denen Lisa ertrunken war, sich jetzt mit denen vermischt hatten, in denen Gaby ertrunken war, und hatte daraus geschlossen, daß Evy total verrückt war – er selbst zog es hundertmal vor zu hinken, als sich unerreichbare Ziele zu setzen oder sich das Leben nach Belieben
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