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Die Frühreifen (German Edition)

Die Frühreifen (German Edition)

Titel: Die Frühreifen (German Edition)
Autoren: Philippe Djian
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Kurve und werden erwachsen«, seufzte Dr.   String, »oder sie kriegen sie nicht, und man weiß nicht, was aus ihnen wird. Es ist eine schwierige Zeit für sie, eine Zeit, in der sie auf vieles verzichten müssen.«
    »Ja, aber dabei darf man nicht von einem Extrem ins andere fallen. Und auch nicht die Probleme derart vereinfachen, daß die Lösung absurd wird. Oder sind Sie da anderer Meinung?«
    Der Arzt öffnete den Mund, doch dann verzichtete er darauf, am Vortag eines neuen Jahres weiter in diese Kerbe zu hauen, vor allem da er wußte, daß er, wenn er auf diesem Thema beharrte und versuchte, das Problem auf rationale Weise anzugehen, sich mit ziemlicher Sicherheit wieder einmal den Vorwurf anhören mußte, daß er keine Kinder hatte und über etwas sprach, von dem er nichts verstand.
    »Die Reinheit? Muß ich Ihnen im einzelnen erklären, was es mit der Reinheit auf sich hat?« fragte Richard mit einem höhnischen Grinsen.
    Nein, das war nicht nötig. Es war weder der richtige Moment noch der richtige Ort, um diese seltsame fixe Idee zu erörtern, die Evy Trendel und dieses arme Mädchen quälte, diese Gaby Gurlitch – Friede sei mit ihr –, diese Gaby Gurlitch, die ihre letzten Augenblicke – die Stellung der Leichen ließ keinen Zweifel zu – weder dem Gebet noch anderen edlen Aufgaben gewidmet hatte.
    »Die Reinheit? Was kann man damit machen?« murmelte Richard. »Kann man sich damit einen abwichsen?«
    Er wandte die Augen ab.
    Bei seiner Rückkehr entdeckte er die besagte Torte oder zumindest das Gestell, in dem sich Laure bereithalten mußte, um herauszuspringen, und er mußte der Lust widerstehen, all das in Stücke zu schlagen.
    Eine weitere Nachricht seines Vaters mit leicht hysterischer Stimme: »Das kannst du mir nicht antun, Richard. Es sei denn, du willst mich umbringen, das kannst du mir nicht antun. Nimm diesen verdammten Hörer ab! Denk an all die Jahre, in denen ich dich unterstützt habe, in denen ich meine väterliche Pflicht erfüllt habe. Ich habe es getan, Richard, ich habe es getan ! Nimm diesen verdammten Hörer ab! Du brauchst nur ein Wort zu sagen, und schon rasen wir zum Flughafen. Unsere Koffer stehen bereit. Wir können den Flug gegen Mittag nehmen. Ihr seid unsere Kinder, ihr seid unsere Familie ! Wir sind eine Familie ! Dieses Schweigen ist unerträglich, hörst du? Warum, Richard? Warum? Was für ein schrecklicher Dämon ist bloß in dich gefahren, du Unglückseliger? «
    Richard konnte nicht sagen, welch schrecklicher Dämon in ihn gefahren war. Er zog es dennoch in Betracht, den Deckel des Kuchens mit Superkleber zu verkleistern oder sich total zu besaufen. Sich total zu besaufen schien das beste in der gegenwärtigen Situation zu sein. Er begegnete Laure auf dem Flur, und sie sagte zu ihm: »Weißt du, du brauchst nicht so ein Gesicht zu machen. Das ändert nichts.« Sie ging weiter, wandte sich dann um und fügte hinzu: »Renne ich etwa mit dem Kopf gegen die Wand?«
    Währenddessen glitt einen knappen Kilometer von dort entfernt das Boot ruhig durch den dunklen Hochwald, vom Schatten ins Licht, von einer Stake vorangeschoben, die Anaïs mit eindrucksvoller Geschicklichkeit handhabte – wenn man ihr Glauben schenken durfte, ging sie mit Wriggriemen und Paddeln ebenso geschickt um.
    Überall ragten die Bäume, halb mit Schnee, halb mit rot glühenden Blättern bedeckt, aus dem Wasser. Zur Zeit waren die beiden Seen verschwunden. Die ganze Mulde, die sich über mehrere hundert Hektar nach Nordwesten hinzog, stand unter Wasser, war völlig überschwemmt, es gab keine Straßen, keine Wege und keine Vierbeiner mehr, sondern nur noch Vögel und eine Handvoll verängstigter Eichhörnchen. Das Unterholz ringsumher spiegelte sich lautlos und regungslos im Wasser. Manchmal gab Anaïs ein paar Anweisungen, um das Boot zwischen den Stämmen hindurch zu steuern oder um Ästen auszuweichen, die sich knapp unter der Oberfläche befanden oder ihnen den Weg versperrten, aber abgesehen davon sagten sie nicht viel.
    Je weiter sie vordrangen, desto sorgenvoller, ernster, angespannter wurden ihre Mienen. Die Spuren der sintflutartigen Regenfälle, die Ende November niedergegangen waren, wurden deutlich sichtbar: entwurzelte Bäume, umgestürzte Bäume, zerbrochene Äste, Schlammlawinen, die inzwischen eingetrocknet und erstarrt waren, nachdem sie sich von den Hängen der umliegenden Hügel in das tiefer gelagerte Gelände hinabgewälzt und dabei zahlreiche Felsen und alles, was sich auf
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