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Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu

Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu

Titel: Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu
Autoren: Christian Y. Schmidt
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Prolog
Ein geheimnisvoller Müllmann bringt unseren Helden auf die Idee, durch China zu reisen. Ob das eine gute Idee war, wird sich erweisen.
    Eigentlich hat mich der Müllmann auf die Idee gebracht. Jedes Mal, wenn ich über den Hof unseres Pekinger Blocks ging, lauerte er mir auf und fragte mit lauter Inquisitorenstimme: «Was machst du eigentlich in China?» Jedes Mal, das heißt tatsächlich mehrmals täglich, denn ein Müllmann in China kommt nicht mit dem großen Müllwagen, sondern transportiert den Abfall mit einem kleinen Fahrradwägelchen ab, weshalb er auch rund um die Uhr beschäftigt ist. Erst stellte mir der Müllmann seine Frage nur auf Chinesisch. Nach ein paar Wochen fing er dann plötzlich auf Englisch an. Er muss es extra für mich gelernt haben, weil ich in seinen Augen ein so großes Rätsel bin. Er sieht, dass ich offensichtlich nie das Haus verlasse, um zur Arbeit zu gehen, so wie ich überhaupt nicht zu festen Zeiten irgendwohin gehe. Das kann er sich absolut nicht erklären. Und darum nervt er mich mit seiner Fragerei jeden Tag.
    Das Problem ist nämlich: Ich weiß selbst nicht mehr so genau, was ich in China mache. Vor gut zwei Jahren, als mich meine chinesische Frau nicht unbedingt gegen meinen Willen von Singapur nach Peking verschleppte, war alles klar: Ich wollte unter Chinesen leben, ich wollte Chinesisch lernen, ich wollte alles über China wissen, ja, letztlich wollte ich selbst ein Chinese werden, wenigstens ein bisschen. Ich hatte dafür gleich eine ganze Reihe von Gründen, wobei es eine Weile brauchte, bis ich sie mir eingestand: Einer war ganz sicher, dass ich meine Frau besser begreifen wollte, ein anderer, dass ich nervöses Hemd insgeheim die Coolness der Chinesen bewunderte. Am wichtigsten aber war wohl, dass meiner Überzeugung nach den Chinesen die Zukunft gehört – wirtschaftlich, technologisch und überhaupt. Ich wollte mich einfach nur auf die Seite der Gewinner schlagen.
    Doch ziemlich bald kam es anders als von mir geplant. In Peking leben nicht nur Chinesen, sondern auch ein ganzer Haufen Ausländer. Sie nennen sich selbst Expatriates oder kurz Expats – Wörterbücher übersetzen das umständlich und unschön mit Auslandsentsandte –, damit niemand auf die Idee kommt, sie mit den Gastarbeitern ihrer Heimatländer zu verwechseln. Doch letztlich sind sie nichts anderes, abgesehen einmal von Wirtschaftsflüchtlingen aus London, Paris oder München, die hier ihre Tage verbummeln. Mit wenig Geld kann man in China großartig leben. Chinesisch muss man dafür nicht können, man muss noch nicht mal chinesisch essen. In Peking gibt es belgische Restaurants und italienische Pizzerias, Tapas-Bars, deutsche Schlachter und einen deutschen Bäcker, der «Der Bäcker» heißt. Wer nicht aufpasst, gerät schnell in diese Kreise.
    Ich hatte nicht aufgepasst. Bald bewegte ich mich nur noch auf Vernissagen von Berliner Installationskünstlern, Botschaftsempfängen zu diversen europäischen Nationalfeiertagen, auf Bällen im extra dafür geschneiderten Smoking oder in Clubs, wo Altpunkbands aus New York auftraten. Ich unterhielt mich auf Deutsch oder Englisch und verlernte dabei selbst die paar Brocken Chinesisch, die ich mir in den ersten Monaten mühsam beigebracht hatte. Letztlich lebte ich so wie ein Deutscher in Berlin oder Frankfurt, nur sehr viel besser. Mein ursprüngliches Ziel aber hatte ich längst vergessen.

    Bis der Müllmann kam und mich mit seiner Fragerei wieder daran erinnerte. Anfangs versuchte ich ihn zu verlachen. Später ging ich ihm aus dem Weg. Aber er passte mich immer wieder ab. Und jedes Mal wurde die Frage ein bisschen eindringlicher: «Genau. Was willst du eigentlich hier?» Eines Tages hatte ich eine Idee. Wie wäre es, wenn ich eine lange Reise machen würde, einmal quer durch China und möglichst in Gegenden, in denen es keine Ausländer gibt? So würde ich nicht nur die Chinesen wirklich kennenlernen, sondern wäre auch gezwungen, mehr chinesisch zu sprechen. Wäre ich nur lange genug unterwegs, würde ich nach meiner Rückkehr dem Müllmann auf Chinesisch erklären, was für ein Peinsack er ist. Bereits zwei Tage später war ich fest zu dieser Reise entschlossen. «Zai Jian!», rief ich dem verblüfften Müllmann bei unserer letzten Begegnung zu. Das heißt «auf Wiedersehen» und gehört zu den wenigen chinesischen Wendungen, die ich beherrsche.
    Das ist nun zwei Monate her. Jetzt sitze ich im nigelnagelneuen Bullettrain von Peking nach Shanghai
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