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Die Frühreifen (German Edition)

Die Frühreifen (German Edition)

Titel: Die Frühreifen (German Edition)
Autoren: Philippe Djian
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seiner Abwesenheit noch ein oder zwei gute Nachrichten von ihrem Agenten hinzukamen. Dann konnte man eine etwas ordinäre Falte in ihren Mundwinkeln erkennen, eine Falte des Genusses, wie jedes Mal, wenn man ihr Talent hervorhob oder eine schmeichelnde Bemerkung machte – auch wenn es sich letztlich nur um einen seichten Film fürs Kabelfernsehen oder um eine Werbeveranstaltung für eine neue extraflache Armbanduhr in einem schicken Lokal handelte.
    Sie ließ einen Hocker zwischen ihnen frei. Sie steckte sich eine Zigarette an und betrachtete das Profil ihres Sohns, der ihr solche Schwierigkeiten bereitete und mit dem alles so hoffnungslos anders verlief, als sie es sich immer gewünscht hatte. Seit acht Monaten hatte sie nicht ein einziges Mal mit ihm gefrühstückt, aber woher hätte sie schon die Kraft dazu nehmen sollen? Gab es für sie eine andere Lösung, als Schlafmittel zu nehmen? Was sie betraf, ging das Leben nicht weiter, sondern kehrte immer wieder zu demselben Ausgangspunkt zurück. Jeder Tag war Lisas Todestag.
    Evy fragte, wo sein Vater sei.
    Sie hatte keine Ahnung. Vermutlich kümmerte er sich um die Verbreitung seines letzten Buchs und gab eine Lesung irgendwo auf dem Land oder in einem herbstlichen Seebad.
    »Eins möchte ich dir doch sagen: Ich wäre dir dankbar, wenn du dich nicht mit einem Mädchen raufen würdest. Und vor allem nicht im Beisein von Marlène Aramentis, die dann garantiert behauptet, daß ich dafür verantwortlich bin, wenn mit dir irgend etwas nicht stimmt.«
    Evy nickte. Er hatte keine große Lust, ein Gespräch anzufangen, und erst recht nicht, dieses Thema mit ihr anzuschneiden. Er fragte sich, wie er es verhindern konnte, daß Anaïs oder wer auch immer noch einmal in seinen Sachen herumwühlte. Sollte er sie an anderer Stelle unterbringen oder ein Mittel finden, um den Zugang zur Plattform zu versperren? Würde ein Vorhängeschloß reichen? Oder was sonst? Er würde über die Sache nachdenken müssen.
    »Wenn Lisa noch da wäre, wäre sie bestimmt nicht damit einverstanden gewesen, wie ihr miteinander umgeht. Ich kann mir nicht vorstellen, daß sie damit einverstanden wäre.«
    Sie blies den Rauch zur Decke, deren Höhe sich im Halbdunkel verlor. Sie sah zu, wie er einen Joghurt aß.
    »Was ist denn bloß in diese arme Anaïs gefahren? Kannst du mir sagen, was los ist?«
    Er verzog leicht den Mund.
    »Wie soll ich das wissen? Woher soll ich wissen, was in ihrem Schädel vorgeht?«
    Richard und Laure hatten sie immer für eine Verrückte gehalten, wie fast alle. Wer interessierte sich schon für Anaïs? Ihnen war letztlich nur eins wichtig, nämlich zu zeigen, daß sie aufgeschlossen waren und daß ein dickes, schlecht gekleidetes Mädchen sie nicht abschreckte. Er glitt vom Hocker und räumte das Geschirr in die Spülmaschine.
    »Gehst du nicht mehr weg?« fragte sie zur Ablenkung.
    Sie konnte es sich nicht verkneifen, ihm zu sagen, daß sie ein tolles Gespräch mit ihrem Agenten gehabt hatte, und du kennst ja Éric, er ist nicht jemand, der gleich Feuer und Flamme ist, fuhr sie fort, ohne die Begeisterung verheimlichen zu können, die sie erfüllte.
    Und daher müsse sie zu einer ersten Kontaktaufnahme in die Stadt fahren. Aber sie sei zuversichtlich, sie fühle sich imstande, ihre Karriere wieder an der Stelle fortzusetzen, an der sie sie unterbrochen habe, und so was spürt man, das weißt du ja, erklärte sie ihm und versuchte dabei seine Gedanken zu erraten, weißt du, so was spürt man einfach. Da täuscht man sich nur selten.
    Die Rolle sei wie auf sie zugeschnitten. Mit einem traurigen Lächeln behauptete sie, daß sie besser denn je begreife, wie lächerlich und hohl all das sei, was mit ihrer Karriere zu tun habe, und daher könne sie unmöglich so weitermachen.
    »Du wirst es vielleicht nicht glauben, aber ich habe wirklich Talent«, sagte sie etwas beschwingter.
    Früher war das Frühstück der einzige Augenblick gewesen, in dem die ganze Familie vereint war – Richard und Laure hatten dafür gesorgt, auch wenn es ihnen schwerfiel, und sich mit heftigen Gewissensbissen daran geklammert, so gut es ging. Jetzt war das alles vorbei, und obwohl sie unter demselben Dach wohnten, vergingen manchmal mehrere Tage, an denen sie sich nicht ein einziges Mal begegneten und es kein Anzeichen dafür gab, daß sie nicht allein lebten und nicht jeder von ihnen der einzige Bewohner dieses Hauses war.
    Evy fand die Versuche, sich einander anzunähern, eher peinlich. Wenn sich
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