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Die Frühreifen (German Edition)

Die Frühreifen (German Edition)

Titel: Die Frühreifen (German Edition)
Autoren: Philippe Djian
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für ihren Bruder waren. Der Blick beeindruckte sie nicht, der Himmel – der Richard zu Freudentränen hingerissen hatte – beeindruckte sie nicht, wohl dagegen das Interesse, das eine ältere Schwester ihrem jüngeren Bruder entgegenbringen konnte, der ihr zufolge das übrigens in keiner Weise verdiente.
    Für Generationen von älteren Schwestern hatte der jüngere Bruder immer und ganz selbstverständlich die Rolle des Prügelknaben eingenommen, Anaïs kannte zahlreiche Beispiele aus ihrer Umgebung dafür, aber dieser Junge schien mehr Glück zu haben als die anderen.
    Das verhinderte jedoch nicht, daß er ab und zu eine kleine Abreibung bekam. Evy hatte es nötig, zurechtgewiesen zu werden. Die Welt war noch nicht über ihm zusammengebrochen.
    Marlène Aramentis führte ihn ins Badezimmer und sagte immer wieder, daß sie nicht verstehe, wie das geschehen konnte, aber wie hätte sie das schon verstehen können?
    Kurz nach Lisas Tod hatte Laure daran gedacht, die Kleider ihrer Tochter loszuwerden und sie dem Roten Kreuz zu geben. Sie war drauf und dran gewesen, die Organisation anzurufen, als Richard plötzlich die Nerven verlor und zusammenzuklappen drohte. Eine Weile später fanden sie schließlich einen Kompromiß, ehe sie sich in ihr jeweiliges Zimmer zurückzogen. Schon am nächsten Morgen in aller Frühe fuhr Richard in die Stadt und brachte fünf dunkelblaue Blechtruhen mit, die er auf dem Rücken vom Auto in Lisas Schlafzimmer trug und anschließend, aber diesmal voll – jede wog mindestens fünfzig Kilo – und mit Vorhängeschlössern versehen, vom Schlafzimmer in den Keller, wo sie noch heute aufeinandergestapelt standen – wie ein mit Lackfarbe gestrichener Sarkophag, ein Monolith, den die Trendels zu vergessen suchten.
    Er ruinierte sich bei dieser Arbeit den Rücken. Der Ischiasnerv, der von der Hüfte ausgehend über die Rückseite des rechten Schenkels verlief, versetzte ihm einen unerträglich stechenden Schmerz, sobald er einen Fuß auf die Erde zu setzen oder die Kissen seines Sessels zurechtzurücken versuchte – anscheinend wirkten die schmerzstillenden und entzündungshemmenden Mittel bei ihm nicht mehr, zahlreiche ehemalige Junkies behaupten im übrigen das gleiche. Aber er bereute es nicht, diesen Preis dafür zu zahlen, daß er sich geweigert hatte, die Sachen seiner Tochter wegzugeben und sie in alle Winde zerstreuen zu lassen. Er schrie wie am Spieß, wenn der Nerv eingeklemmt war, sprach von Dolchstößen, Lanzenstichen oder einem heftigen Stromschlag, der ihn erstarren ließ, sobald er nur eine Wimper bewegte, aber hinter diesen Schmerzenstränen, die ihm die Augen verschleierten, lächelte seine Seele, begann für eine Weile wieder zu leben.
    Evy fand diesen Kampf jämmerlich. Die Reaktionen seines Vaters nach Lisas Tod, die Zustände, in die er sich bisweilen sogar in der Öffentlichkeit hineinsteigerte, wobei er die Leute mit seinen Tränen überschwemmte und ihnen hemmungslos die Ohren volljammerte, all das haßte Evy zutiefst. Das widerte ihn an.
    Er hielt noch immer die Nase hoch, während er in Begleitung von Andreas mit schnellem Schritt fortging, aber die Blutung war gestillt. Sie liefen quer durch den Wald, das Licht übersäte sie mit goldenen Blütenblättern und sprenkelte den Boden, von dem ein starker erdiger Geruch ausging. Je näher sie ans Ziel kamen, desto schneller lief er und zählte mit lauter Stimme die schrecklichen Strafen auf, die Anaïs erleiden würde, wenn sie gelogen hatte, worauf Andreas hinter ihm hinzufügte, daß es völlig unbegreiflich sei, wieso Lisa einen Narren an ihr gefressen hatte.
    »Sie ist total bescheuert, diese Zicke«, fügte er hinzu, als sie leicht abgehetzt am Fuß der Roteiche ankamen, auf deren Ästen Richard Trendel zwei Wochen lang mit Hammer und Nägeln herumgeturnt hatte, als seine Kinder noch klein waren.
    Ohne etwas darauf zu erwidern, legte Evy seine Tasche auf den Boden und stieg zu der Plattform hinauf und setzte dabei die Füße auf die Sprossen, die Richard aus den Teakholzbrettern der Veranda gesägt hatte, einem Geschenk seiner Eltern – »Diese Scheißveranda«, wie er oft gesagt hatte, »diese beiden bekloppten alten Säcke!«, aber er war nicht fähig gewesen, einen Finger zu rühren, um sie an ihren Verrücktheiten zu hindern und ihrem Altersstarrsinn, ihrem widerlichen, albtraumhaften Optimismus, was ihn und sein eigenes Leben anging, Schranken zu setzen, denn er stand damals unter Methadon und war völlig
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