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Die Frühreifen (German Edition)

Die Frühreifen (German Edition)

Titel: Die Frühreifen (German Edition)
Autoren: Philippe Djian
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Miete zu zahlen brauchten, sonst hätte Richard einen Artikel schreiben müssen, wozu er nicht die geringste Lust hatte – zu manchen Zeiten hing er mehrmals täglich an der Nadel, und das Geld schwand kofferweise –, ganz zu schweigen von einem Drehbuch oder einem Roman, einer Aufgabe, für die er nicht mehr das nötige Durchhaltevermögen besaß. Noch heute sträubten sie sich, ihr Talent zu vergeuden und sich für Geld zu kompromittieren, aber sie machten nicht mehr so ein großes Getue darum, sprachen nicht mehr darüber und nahmen diese Demütigungen als notwendiges Übel hin – wenn Laure zum Beispiel einen Werbespot drehte, in dem sie die Handtaschen von Vuitton anpries, konnte sie damit ihren Lebensunterhalt für mehrere Monate finanzieren.
    Ihre beiden Kinder verstanden es durchaus, daß man das Geld dort suchen mußte, wo es zu finden war, sie räumten es immer wieder ein, aber Laure glaubte, ständig einen stummen Vorwurf zu spüren. »Nun mal los. Sag mir, was du davon hältst. Zeig mir, daß du kein Weichei bist«, warf sie Evy eines Tages an den Kopf, nachdem er etwas voreilig gelacht hatte, als er einen Clip sah, in dem sie für eine Parfümmarke einen Orgasmus vortäuschte.
    Lisa und ihr Bruder hatten nicht den Eindruck, daß ihre Eltern anders waren als andere, und das war vielleicht ein Aspekt, den Richard und Laure nicht richtig eingeschätzt hatten, ein Umstand, der zahlreiche Mißverständnisse auf beiden Seiten auslöste.
    Nach der Schule machten Evy und Andreas bei Michèle Aramentis halt, deren kleine Schwester ihren zehnten Geburtstag feierte. Sie hatten Lust, ein Stück Kuchen zu essen und eine Weile in Michèles Zimmer zu verbringen.
    Ihr Vater war Produzent. Man sah ihn nur selten, da er sich häufig bei Dreharbeiten irgendwo in der Ferne aufhielt, wie seine Frau sagte.
    Marlène Aramentis machte exquisite Kuchen. Ihre Biskuitrolle mit Himbeeren war geradezu ein Gedicht, ein Meisterwerk, dessen Herstellung mehrere Stunden dauerte und ihre ganze Aufmerksamkeit erforderte. Sie investierte auch viel Zeit und Energie in das Schulleben, war Vorsitzende des Elternbeirats und veranstaltete Sammlungen für Auslandsaufenthalte oder den Bau eines zweiten vollautomatischen Mehrzwecksaals.
    Überall hingen Luftballons, Hüte, Luftschlangen, Papierkugeln, es gab Limonade und Gebäck, aus den Lautsprechern, die in den nur spärlichen Schatten werfenden Bäumen versteckt waren, drang eine etwas doofe Musik, der Garten stand gleichsam in Flammen. Der Empfang fand am Rand des Swimmingpools in etwas hysterischer Atmosphäre statt. Michèles Mutter hatte bereits einen besorgten Blick, und ihr Mund war leicht verzerrt.
    Sie hatte zwei Studentinnen eingestellt, die ihr zur Seite stehen sollten, aber sie erklärte, daß sie nicht mit ihnen zufrieden sei. »Sie kommen nicht im geringsten gegen diese Blagen an. Die armen Mädchen sind absolute Nieten.« Man sah, wie sie verzweifelt hin und her rannten – keuchend, als brächen sie gleich zusammen.
    Manche Mütter waren erschüttert über den Schicksalsschlag, der die Trendels und insbesondere Evy getroffen hatte, auch wenn sie es geschickt zu verheimlichen wußten. Sie sahen ihn zärtlich und voller Mitleid an, hatten immer ein freundliches Wort für ihn übrig, folgten ihm mit dem Blick und schüttelten den Kopf, um anzudeuten, daß Laure nicht alles für ihren Jungen tat, was sie tun könnte.
    Acht Monate nach dem Drama sprach man noch immer viel über dieses Thema. Alle waren zu Lisas Beerdigung gekommen, ohne Ausnahme – an einem eisigen Februarmorgen mit perlgrauem Himmel und aschfarbenem Horizont –, und viele hatten gespürt, wie sich Laures Gefühle ihrem Sohn gegenüber aus durchaus verständlichen Gründen zu wandeln begannen. Für eine treue Seele wie Marlène Aramentis bestand kein Zweifel, daß Evy einer ungerechten Beschuldigung, einer ungerechten Bestrafung ausgesetzt war.
    »Wie kann man bloß auf den Gedanken kommen, daß dieser Junge seine Schwester umgebracht haben könne?« Jedesmal wenn sie Evy betrachtete, seinen entschlossenen Gang, seine vierzehn Jahre, sein engelhaftes Gesicht, seine dunklen Augen, verstand sie nicht, wie manche Leute ein so schlechtes Urteilsvermögen, so wenig Gespür besaßen.
    Andreas, der sich möglichst bald mit Michèle einschließen wollte, fragte, ob noch Kuchen da sei.
    Seit den Osterferien weigerte sich Michèle nicht mehr, ihnen einen zu blasen, aber ihre Fortschritte auf diesem Gebiet waren so gut wie
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