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Die Frauen von Ithaka: Roman (German Edition)

Die Frauen von Ithaka: Roman (German Edition)

Titel: Die Frauen von Ithaka: Roman (German Edition)
Autoren: Sándor Márai
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meine hehre Frau Penelope und ihren Sohn, den wohlberühmten Telemachos, in den Rang der Unsterblichen erhoben: Mit ihren hervorragenden Beziehungen ist es ihr gelungen, diese Rangerhöhung noch im Olymp genehmigen zu lassen. Ich habe gehört, dies sei einer der letzten Fälle gewesen, in dem so etwas noch möglich war. Im Sinne des Neuen Vertrages ist der Mensch jetzt selbst Herr seines Schicksals, jedenfalls was die Sterblichen anbelangt. Wir jedoch – Ulysses’ Frauen und Söhne – haben das ewige Leben. Dieser Zustand hat Vorteile, aber er hat auch Nachteile. Wir gehören nicht mehr voll und ganz zur menschlichen Welt, sind jedoch auch nicht mit vollem Recht in die göttliche Welt aufgenommen. Zwischen Himmel und Erde schwebend verbringen wir unsere Tage. Ist das vielleicht der wahre Sinn von Ulysses’ Rache?
    Denn die Sache der Verbürgerlichung entwickelt sich in der Welt mit großem Schwung: Die Zeit der Helden, die Zeit des freien und ungebundenen Raubens und Tötens ist für uns auch vorbei. Mein Vater hat noch getötet, wie es sein musste: frei, freudig und verantwortungslos. Dieses uralte Handwerk wird – so höre ich – in der menschlichen Welt neuerdings an gewisse Bedingungen und Genehmigungen gebunden. Diese augenfällige Verlogenheit hat mir die Lust genommen, die bevorzugte Lebensweise meiner Jugendzeit fortzusetzen. Wir leben alle vier auf der Insel Aiaia, pflegen das Gedächtnis meines Vaters, bemühen uns, den Sinn seiner rätselhaften Anordnung zu begreifen, und beschäftigen uns mit Viehzucht und Landwirtschaft. Meine großartige Frau fertigt Gewebe an, denn darauf versteht sie sich ein wenig. Meine Mutter hat mit dem Zaubern aufgehört und braut in ihrem Labor Schönheitsmittel zusammen, die dann die Silene als fahrende Händler auf den Inseln verkaufen. Mit Telemachos versuche ich in Frieden zu leben. Das ist nicht einfach, denn er ist von Natur aus betrübt, hinterhältig und voll grollender gekränkter Eitelkeit. Er benimmt sich, als hätte ihn eine Kränkung, eine Degradierung getroffen, ihn, den offiziellen, legitimen Sohn von Ulysses: Er ist kein Königssohn mehr, aber auch kein König … Gewiss, das Schicksal, in dem der unabänderliche Wille unseres sterbenden Vaters uns vier zusammengesperrt hat, ist auch eine Art vornehmer Sklaverei. Wir leben in der Sklaverei seines unruhigen Blutes. Sein Blut strömt in den Körpern meiner Frau, meiner Mutter, meines Bruders, und sein Blut höre ich auch in meinem ruhelosen Herzen sprudeln … das Blut, das ich vergossen habe. So ist nun alles und jeder an seinem Platz: Mein Vater lebt in unserem Blut. Und unser Leben wird von seinem schlauen und leidenschaftlichen Blut geleitet.
    An Winterabenden oder im Herbst nach der Lese setzen wir uns in der Säulenvorhalle zusammen und unterhalten uns bei einem Becher Wein über unsere Erinnerungen. Dann erfahre ich immer neue Einzelheiten über meinen unbekannten und doch so anziehenden, beunruhigend vertrauten, gefährlichen Vater. Penelope weint manchmal, und wenn sie den Kopf an meiner Brust verbirgt, weiß ich, dass sie Ulysses’ Geruch an meiner Haut nachspürt. Aus Takt und Höflichkeit dulde ich das wortlos. Meine Mutter erzählt gern von der Zeit, die mein Vater in unserem Haus und ihren Armen verbrachte. Telemachos spricht von seinen Wanderungen, etwas prahlerisch berichtet er von seinen Reisen auf die Insel Scheria, dann von den Erlebnissen im Haus unserer hehren Verwandten Kalypso und anderer Nymphen. Aber wovon wir auch zu reden beginnen: Durch die Worte hindurch taucht immer die Erinnerung an meinen Vater auf. Jetzt ist er für immer daheim – hier in uns, in unseren Blutzellen. Er, der große Heimatlose, hat auf diese Weise eine ewige Heimat gefunden. Ich bedaure, dass ich ihn nicht kannte. Wenigstens getötet habe ich ihn. Sein Andenken bewahre ich in Ehrfurcht. Jetzt habe ich alles über meinen seligen Vater gesagt. Oder jedenfalls alles, was ich sagen kann. Ich glaube, so war er – oder so ähnlich. Aber in Wirklichkeit kann ich nicht wissen, wie er war. – Ich war ja nur sein Mörder.

Nachgesang
    Die Menschheit hat den idyllischen Schluss der Odyssee nie akzeptiert. Der vierundzwanzigste Gesang, die große Hymne des Friedensschlusses, war kein wahres Ende für diese leidenschaftliche Geschichte. Die Leser spürten zu jeder Zeit, dass Ulysses in der Idylle der Heimkehr keine endgültige Heimat gefunden haben konnte. Die Absicht des Dichters – oder der Dichter – ist spürbar:
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