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Die Frauen von Ithaka: Roman (German Edition)

Die Frauen von Ithaka: Roman (German Edition)

Titel: Die Frauen von Ithaka: Roman (German Edition)
Autoren: Sándor Márai
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Das Epos verheißt Ulysses noch weitere Reisen.
    Die Ankündigung dieser Reisen regte die Phantasie der Menschen seit jeher an. Aber in Wirklichkeit bekam diese »Fortsetzung« nur einmal epische Gestalt. Ulysses selbst tritt, als er Ithaka wieder verlässt, in den Nebel. Seine Gestalt taucht in der Literatur zwar noch manchmal auf. Dramatiker, Dichter und Philosophen nehmen das Andenken des großen Listigen zu Hilfe, um verwickelte menschliche Situationen zu lösen. Insgesamt ist er als Sagengestalt jedoch im wirren Gestöber seines epischen Schicksals verschwunden. Die einzelnen Geschichten der Odyssee lagerten sich wie Gesteinsschichten in der gleichgültigen Zeit ab: Die Telemachie, die Nekyia, dann bekam der streng umrissene Erlebniskreis bei Homer und seinen Mitarbeitern für ewige Zeiten eine einheitliche Gestalt im vielleicht am vollkommensten abgeschlossenen und beendeten Werk des menschlichen Geistes. Dennoch beschäftigt sich die philologische Streitliteratur über Ulysses in ihren unüberschaubaren Ausmaßen immer wieder damit, wie das weitere Schicksal des Helden hätte aussehen können.
    Die »Fortsetzung« – die Telegoneia – ist jedoch kein mit Schriftprobe und Fingerabdruck nachweisbares Epos mehr. Sicher ist nur, dass es einen solchen Versuch gegeben hat, und sicher ist auch, dass er verloren ist. Der aus Kyrene stammende Dichter Eugammon schrieb zur Zeit der dreiundfünfzigsten Olympiade (568/4 v. Chr.) ein zweibändiges Werk mit diesem Titel, dessen Handlung Proklos in seiner Chrestomathie zusammenfasste. Doch seinem großen Vorgänger konnte es in keiner Hinsicht das Wasser reichen. Spätere Kritiker meinen, Eugammon sei ein Flickdichter gewesen und habe in zwei improvisierten Gesängen in spöttisch unterhaltender Vortragsweise festgehalten, wie das Homerische Epos weitergesponnen wurde: Ulysses’ Wanderungen in Elis, Thesprotien und Epeiros, dann der Aufbruch des Telegonos, des Sohnes von Kirke und Ulysses, und schließlich das grässliche und unbeschreibliche, aber im Sagenkreis aller Völker einhellig sich wiederholende Ende: Die Prophezeiung des Orakels erfüllt sich, der Vater fällt von der Hand seines Sohnes. Wenn das Werk des kyrenischen Dichters auch nicht literarisch bedeutsam war – Aristoboulos beschuldigte Eugammon sogar, das Kapitel der Telegoneia , in dem von den thesprotischen Abenteuern erzählt wird, von Musaios gestohlen zu haben! –, so liegt doch sein großes Verdienst darin, der menschlichen Phantasie einen Anreiz dafür gegeben zu haben, den homerischen Mythos aufzugreifen. Vielerorts in der antiken Literatur taucht die weitergesponnene Sage auf, natürlich mit Abwandlungen. Die bedeutendste dieser Unternehmungen ist das Drama des Sophokles, das den Stoff des kyrenischen Dichters aufnimmt. Auch Apollodor gibt detailliert einen Auszug aus der postulysseischen Telegonie wieder. Mehr über das Verhältnis zwischen Kirke und Ulysses erfährt man bei Parthenios. Er berichtete nicht nur über die Beziehung zwischen dem Großen Irrfahrer und der Großen Zauberin, sondern auch über die Liebe des Kalchos; er glaubt sogar zu wissen, dass der verzauberte Kalchos von den Speisen, die ihm Kirke servieren ließ, verrückt geworden ist. Aristophanes parodierte Kirkes Zauber ebenso wie Ephippos und Anaxilas, die in ihren Komödien die Praktiken der Todesgöttin verspotteten. Die Handlung der Telegonie klingt sogar in den Aufzeichnungen des späteren Cicero an: Der tödlich verwundete Ulysses – so erzählt Cicero – wurde in sein Wohnhaus gebracht, wo er wegen des Giftes, das ihm sein Sohn in den Leib gestoßen hatte, klagte, aber schließlich »mutig starb«. All dies ist viel und zugleich wenig. Gewiss war die Telegonie niemals ein so greifbarer mythologischer Stoff wie die Erzählung, aus der der magische Mantel der Odyssee gewebt ist.
    Ebenso gewiss ist aber auch, dass die menschliche Phantasie zu jeder Zeit die Fortsetzung der großen Erzählung forderte. In der Mythologie gibt es keine Zeit. Wie ein Astronom oder Biologe ist auch derjenige, der sich mit Mythen beschäftigt, gezwungen, in Lichtjahren zu rechnen, wenn er den Ursprung und die Ausmaße der Erscheinungen erforschen will: Die Zahlenwerte der euklidischen Geometrie gelten im Mythos nicht. Ulysses ist eine historische Gestalt – auch, wenn er nicht gelebt hat; der Krieg um Troja und das Schicksal der Menschen, die an dieser Unternehmung teilhatten, ist ein historisches Schicksal. Die verblüffend kurze Zeitspanne,
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