Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Frauen von Ithaka: Roman (German Edition)

Die Frauen von Ithaka: Roman (German Edition)

Titel: Die Frauen von Ithaka: Roman (German Edition)
Autoren: Sándor Márai
Vom Netzwerk:
einigermaßen in Sicherheit. Am Fuß eines Felsens setzte ich mich nieder, hielt mit beiden Händen die Lanze fest und lauschte unter dem lautlosen Sternenhimmel. Mein Herz tobte. Ich hatte die beiden Menschen gesehen, die meinen Vater in der Fülle seiner Manneskraft und Fähigkeiten gekannt hatten: den Mann, der auf meinen Vater eifersüchtig war, und die Frau, auf die mein Vater eifersüchtig war. Ich hatte das Gefühl, einer großen Gefahr entgangen zu sein, als ich den nächtlichen Besuch der berühmten Geliebten meines Vaters nicht abgewartet hatte. Diese Gefahr fühlte ich nur. Ihren wirklichen Sinn konnte ich mit Worten nicht benennen. Aber ich wusste sicher, dass auch dies eines der menschlichen Geheimnisse war.
    Ich war hungrig, müde und traurig. Ich hatte die Geschichte gehört und die Menschen kennengelernt, unter denen ich nun leben musste. Die Götter schienen mich in diesem Augenblick verlassen zu haben. Und die Menschen hatten mich noch nicht aufgenommen. Die Nacht war kalt. Ich hatte Angst und fror.
    XV
    In der Morgendämmerung machte ich mich auf den Weg. Ich ging unter die Menschen, meinen Vater zu suchen. Dies war eine wilde und fürchterliche Reise. Wenn ich jetzt an die Zeit des Umherirrens, der Suche und der leidenschaftlichen Wanderjahre zurückdenke, habe ich das Gefühl, dass mich tatsächlich die Hand der Götter geführt hat. Bei jedem Schritt ging ich über Scheußlichkeiten und Abgründe. Auf der Toteninsel hätte ich nicht einmal davon geträumt, dass die Welt so gefährlich ist. Ich lebte unter Menschen und auf menschliche Weise, hatte also ein Schicksal, dem ich nicht entkam. Dies ist die größte Gefahr.
    Ich habe nicht die Absicht zu prahlen. Ich rühme mich auch nicht, dass es mir aus eigenem Willen und Verstand gelang, in der Welt meinen Mann zu stehen. Meine großartige, aber manchmal schwer verständliche Frau Penelope sagt, mein Vater und ich seien aus demselben Holz und sein Geist habe mich durch die Gefahren geführt. Da ich meinen Vater nicht gekannt habe, bemühe ich mich, mich selbst besser kennenzulernen, um etwas über den Ahnen zu erfahren, der in mir lebt. Allerdings sagen die schriftkundigen griechischen Sklaven, nichts sei schwerer, als sich selbst zu erkennen.
    In den ersten Jahren der Wanderschaft hatte ich keine Gelegenheit, mich mit Grübeleien und Selbstbeobachtung abzugeben. Von dem Augenblick an, in dem ich den Fluss Eurotas überquert und Spartas raue Grenzsteine hinter mir gelassen hatte, war ich ganz und gar auf mich gestellt. Die Aufgaben, mit denen ich zu kämpfen hatte, waren gänzlich neu. Ich musste lernen, was Freundschaft und was Feindschaft ist. Diese beiden verwechselte ich oft. Heute, mit ergrauendem Kopf, vermute ich, dass die beiden ein und dasselbe sind, so lange, bis sich herausstellt, wo die Interessengrenze liegt, an der der Freund zum Feind wird oder die Feindschaft gezwungen ist, Freundschaft zu heucheln. Aber für diese Erfahrung habe ich einen hohen Preis gezahlt. Überhaupt musste ich in der Welt der Menschen immerzu für alles bezahlen. Auch daran musste ich mich gewöhnen. Ich lernte, dass man auf der Erde nicht nur leben, sondern auch überleben muss. Ich lernte, dass die Worte mehrere Bedeutungen haben: das, was sie bedeuten, und dann das, worüber sie schweigen. Ich lernte, was Geld ist, und auch, dass die irdischen Güter nicht nur eine Bestimmung, sondern auch einen Preis haben. In Argos legten mich die Händler oft herein. Ich war ein Göttersohn und gewöhnte mich nur schwer ans Geld. Mit der Zeit lernte ich – und das war vielleicht am schwersten –, dass man mit dem menschlichen Mund nicht nur essen, reden und küssen kann, sondern auch schweigen. Das ist eine große Kunst. Ich habe bitteres Lehrgeld hierfür bezahlt. Denn zu den Erfahrungen meiner Wanderjahre gehörte auch, dass ich mir in Argos, wo die Menschen viel und gern reden, das Geheimnis aneignete, wie man viel und farbig über etwas schweigen kann. Im Besitz dieses Geheimnisses setzte ich meine irdischen Wanderungen erfolgreicher fort.
    Jahrelang war ich pausenlos unterwegs. Sparta mit seinen bedauerlichen und furchtbaren Erinnerungen blieb hinter mir zurück. Ich hatte erfahren, dass die Spartaner nicht besonders spartanisch leben und dass es nicht geraten ist, die großen Helden und Ideale der Menschheit aus der Nähe zu betrachten. Diese erste Enttäuschung, die ich in der menschlichen Welt erfahren hatte, verwand ich nur schwer. Aber im Lauf der Zeit und mit
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher