Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Frauen von Ithaka: Roman (German Edition)

Die Frauen von Ithaka: Roman (German Edition)

Titel: Die Frauen von Ithaka: Roman (German Edition)
Autoren: Sándor Márai
Vom Netzwerk:
gelangten auch Nachrichten über Ulysses zu mir. Die Menschen erwähnten ihn hier und dort. Ich hörte leidenschaftliche Anschuldigungen, aber manchmal kam mir auch spöttisch gleichgültiger Klatsch zu Ohren. Man erzählte, er sei immer noch ein Held. Doch es hieß auch, dass er schon alt sei, weniger morde, seine Hand zittere, wenn er zustechen muss, dass er launisch sei und ihn die Gicht plage. Ich hörte, dass er von Zeit zu Zeit auf den Inseln noch die eine oder andere leichtgläubige Königin finde, die ihn für eine Weile aufnahm, sich seine trügerischen Märchen anhörte und ihm freie Kost und Logis bot. Aber alle diese Nachrichten bewiesen, dass der Stern meines strahlenden Vaters im Sinken begriffen war. Manchmal traf ich auf finster blickende Männer, die prahlten, sie seien Ulysses’ Söhne. Äußerlich glaubte ich tatsächlich Familienähnlichkeiten zu erkennen. Doch die Ungewissheit ihrer Abstammung warnte mich davor, meine Verwandtschaftsgefühle allzu leichtsinnig zur Schau zu stellen. Ich hatte gelernt, dass es in der Menschenwelt ein ungewisser Ruhm war, Ulysses’ Sohn zu sein … Ich lebte einsam.
    Dennoch fühlte ich mich wie von einem Magneten von der Gegend angezogen, in der er – wirren Mitteilungen zufolge – lebte, schlief, sich an den Tisch der Männer setzte und in die Betten der Frauen legte. Andauernd traf ich in Argos Frauen, die in vertraulichen Augenblicken des Zusammenseins mit sonderbarer, erinnernder und träumerischer Stimme versicherten, meine Küsse seien ihnen vertraut, der Geruch meiner Haut und der Geschmack meines Mundes erinnere sie an Ulysses. So wanderte ich von Frau zu Frau, von Spur zu Spur in den Fußstapfen meines Vaters – ihm ausweichend und doch immerfort auf der Suche nach ihm. Ich fürchtete mich vor der Begegnung, und zugleich strömte eine dunkle Leidenschaft in meinem Blut – Neugier, Wut, Widerstand, alles in allem Leidenschaft –, die mich zu ihm hinzog. Von meiner Mutter, von der Welt der Halbgötter, die ich verlassen hatte, um auf der Erde meinem Vater hinterherzustreifen, hörte ich gar nichts mehr. An der Schwelle zum Mannesalter, im zehnten Jahr meiner Wanderungen, war aus mir ein bärtiger und struppiger, aber zugleich starker und selbstständiger Räuber geworden. Der Ruf meiner Tätigkeit hatte sich weit über die Inseln verbreitet. Der Geist meines Vaters leitete mich.
    An die Nacht, als ich die Erde von Ithaka betrat, werde ich mich ewig erinnern. Es war eine stürmische Nacht. Die schaumigen Wogen des Ionischen Meeres warfen meine Barke hin und her, als ich in der Bucht von Ithaka das Ufer erreichte. Einsam, wie ich es gewohnt war, ging ich mit meiner Lanze in der Hand auf meinen Erkundungs- und Beutezug. In dieser Zeit hatte ich bereits große Routine, ich wusste genau, wie man nachts die Herrensitze der kleineren Städte überfallen musste, wie man Lebensmittel und Getränke, Kleidung und eine Frau rauben und sich dann, bei Berührung der rosenfingrigen Morgenröte, mit dem ersten Licht und dem Morgenwind wieder auf den Weg machen musste, in der Barke das Felleisen voller Beute. Ich mochte diese gefährlichen nächtlichen Landungen. Und ich mochte den anbrechenden Morgen, wenn der nach Blut schmeckende, salzige Wind meine mit Beute gefüllte Barke auf dem stürmischen Meer triumphierend dahinfliegen ließ. Das Licht, der Wind, das rauschende Meer, die funkensprühenden Ufer, die wilden und kreischenden Erinnerungen der Nacht, die Schreie meines Herzens, das in meinem kräftigen Brustkorb pochte, die betäubenden Sirenenklänge neuer Möglichkeiten und Gefahren … All das bedeutete für mich das Gleiche. Dies war das menschliche Leben.
    Diesen Rausch spürte ich auch in dem Augenblick, als ich meinen Fuß auf den Boden von Ithaka setzte. Ich wusste nicht, wo ich war … Ich hatte den Bug meiner Barke, wie schon so viele Male zuvor, in die Bucht einer unbedeutenden, felsigen Insel gelenkt. Die Nacht war mondbeschienen und von Wolken verschleiert, aber im Osten dämmerte schon der Glanz der goldenen Radspeichen meines göttlichen Großvaters. Lautlos spähend und witternd suchte ich mir zwischen Zypressen, Ölbäumen und Weinstöcken meinen Weg. Den Herrensitz, dessen terrassenartiger Vorplatz sich zum Meer hin öffnete, sah ich schon von Weitem. Zwischen zwei Säulen loderte die rötliche Flamme einer Fackel. Ich spürte eine sonderbare Befangenheit. Menschen sah ich nirgends, und die Götter gaben mir kein Zeichen, dass ich mich in der
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher