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Die Frauen von Ithaka: Roman (German Edition)

Die Frauen von Ithaka: Roman (German Edition)

Titel: Die Frauen von Ithaka: Roman (German Edition)
Autoren: Sándor Márai
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wachsender Erfahrung urteilte ich nachsichtiger über die menschlichen Schwächen. Menelaos war ein bedauernswerter, trunksüchtiger und geschwätziger, alter Mann … dennoch, jetzt, da sich die unendliche Zeit auch mit mir voranwälzt, ahne ich schon, dass man weder die Menschen noch die Götter an ihren Fehlern messen darf. Man muss großmütig sein, um in den Menschen die Größe sehen zu können, und noch viel großmütiger, um an die Götter glauben zu können. Der Mensch ist offenbar wirklich ein geheimnisvolles Geschöpf. Nicht seine Schwächen bestimmen sein wahres Wesen, sondern das wenige, was anders und mehr ist als seine Schwächen. Die Götter sind nur vollkommen. Das ist nicht sehr schwer. Der Mensch ist unvollkommen, aber er kann über sich hinauswachsen. Ich hatte eine gute Schule. Ich lebte unter Griechen. Ein geschwätziges Volk, doch können sie töten, und sie können sterben. Außerdem beherrschen sie eine besondere Kunst, die ich in der Welt der Götter nicht angetroffen habe: Sie haben ein Gefühl für das rechte Maß. Sie wissen, was viel ist, was wenig und was mittel. Das weiß nur der Mensch. Die Götter sind – in ihren Sehnsüchten wie in ihren Absichten – maßlos.
    Da ich keinen Beruf erlernt hatte und an den meisten Orten in der Welt der Menschen misstrauisch empfangen wurde und weder eine Niederlassungs- noch eine Arbeitserlaubnis bekam, war ich gezwungen, mich auf uralte Beschäftigungen zu verlegen, um überleben zu können. Ich fischte und jagte, dann raubte ich und tötete. Überrascht entdeckte ich in mir verborgene Fähigkeiten, die ich wahrscheinlich von meinem begabten Vater geerbt hatte. Bald begriff ich, dass es nicht lohnte, mit den Menschen zu diskutieren: In den großen Kämpfen des Lebens ist es am klügsten, zu schweigen oder zuzustechen. Die Lanze mit dem Rochenstachel – mein väterliches Erbe, das mir meine Mutter mit auf den Weg gegeben hatte – erwies sich als erstklassige Waffe. Der sägeartige Fischknochen drang blitzschnell in den Körper des Gegners ein und schlug immer tödliche Wunden. Ich bemerkte bald, dass meine Mutter diesen Knochen mit Gift getränkt hatte und dass dieses tödliche Gift den Opfern sonderbare Schmerzen verursachte. Ich lernte, dass man Wildschweine am besten in den Unterbauch, Rehe in die Brust und Menschen in die linke Seite, zwischen dritter und vierter oberer Rippe, stechen musste. Mit der Zeit bekam ich einen fürchterlichen Ruf auf dem Festland und den Inseln. Die Menschen redeten, dass ein wilder Geselle in der Nähe ihrer Dörfer, in den Wäldern und Lauben hause, Frauen, Schweine und Weinfässer raube und dass der Gewalttäter der Sohn des Ulysses sei … Je reicher ich an Erfahrung, Abenteuer und Jahren wurde, desto mehr umgab meine Person eine gewisse finstere Achtung.
    Das Leben gerbte mir Leib und Seele wie der Sturm das Wild der griechischen Wälder. In meinem Gedächtnis versanken langsam die Erinnerungen an meine göttliche Mutter, meine Abstammung, die Toteninsel. Es kam ein Tag, an dem ich mit allen Konsequenzen unter den Menschen lebte. Manchmal erreichten mich wirre Nachrichten aus der verbürgerlichten Welt, über die Hermes in einer denkwürdigen Nacht so zufrieden gesprochen hatte. Ich spürte wenig Neigung, an dem großen menschlichen Unternehmen der Verbürgerlichung teilzuhaben. In meinen Adern wallte das Blut meines Vaters, und statt mich an dem fürchterlichen Abenteuer der Ordnung zu beteiligen, floh ich lieber in die Unordnung. Hier fühlte ich mich ziemlich heimisch. Während meiner wilden Streifzüge hörte ich auch manchmal Nachrichten aus der Welt der Helden. Ich hörte, dass Menelaos gestorben war und seine Witwe, die alte Helena, von zwei bösartigen Burschen namens Milostratos und Megapenthes, Söhnen des Heerführers, die ihm Konkubinen geboren hatten, aus Sparta fortgejagt worden war. Die Nachrichtenüberbringer erzählten, die arme alte Frau sei nach Rhodos geflohen, wo sie ohne Witwengeld mit Näharbeiten noch einige Jahre lang ihr Leben in der Verbannung fristete, bis sie dann unter merkwürdigen Umständen starb. Diese Nachricht empörte mich. Dieses hässliche Beispiel des Undanks mahnte mich zur gesteigerten Vorsicht in der menschlichen Welt. Helena hatte ihre Zeitgenossen vergeblich zu großen Taten animiert. Ich hatte allen Grund, darüber nachzudenken, welches Schicksal wohl ihrem großen Geliebten, meinem geheimnisvollen und fürchterlichen Vater, beschieden sein würde.
    Denn manchmal
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