Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die florentinische Prinzessin

Die florentinische Prinzessin

Titel: Die florentinische Prinzessin
Autoren: Christopher W. Gortner
Vom Netzwerk:
weder Blut noch üblen Geruch, bis auf den der Kräuter. Ich hatte erwartet, angeekelt zu sein, abgestoßen. Stattdessen war ich fasziniert von den blauen Lungen und dem geschrumpften Herzen, das in einem Käfig aus gebrochenen Rippen ruhte.
    »Was macht Ihr da?«, fragte ich leise, als ob sie mich hören könnte.
    Er seufzte. »Ich suche nach ihrer Seele.«
    »Und? Könnt Ihr eine Seele sehen?«
    Sein Lächeln vertiefte die Runzeln in seinem Gesicht. »Muss man immer etwas sehen, um daran zu glauben?« Er nahm mich bei der Hand und führte mich zu den Kissen in der Ecke. »Setzt Euch. Sagt mir, warum Ihr gekommen seid.«
    Ich war mir nicht sicher, was ich sagen sollte, aber seine sanfte Art weckte in mir den Wunsch, ihm die Wahrheit zu erzählen. »Ich … ich habe gestern etwas gesehen. Es machte mir Angst.«
    »War es ein Traum?«
    »Nein, ich war wach.« Ich hielt inne, dachte nach. »Aber es war wie ein Traum.«
    »Sagt mir, was Ihr gesehen habt.«
    Ich beschrieb es ihm. Und wieder empfand ich diese schreckliche Hilflosigkeit und hörte meine Stimme zittern. Als ich geendet hatte, faltete der Maestro die Hände. »Lag da jemand, den Ihr kanntet, auf dem Bett?« Er lächelte, als ich den Kopf schüttelte. »Ich verstehe. Darum habt Ihr Euch gefürchtet. Ihr dachtet, Ihr würdet einen Angehörigen sehen, und stattdessen saht Ihr einen Fremden. Einen jungen Mann, nicht wahr, der gewaltsam zu Tode kam?«
    Es lief mir kalt über den Rücken. »Woher wisst Ihr das?«
    »Ich sehe es Euch an. Ach, mein Kind, Ihr müsst Euch nicht ängstigen, nur begreifen, dass nur wenige Menschen Verständnis dafür aufbringen würden, was Ihr mir eben erzählt habt.« Er beugte sich zu mir vor. »Was Ihr gestern erlebt habt, nennt man eine Vorahnung. Sie betrifft die Zukunft, kann aber auch ein Echo aus der Vergangenheit sein. Im Altertum hielt man die Hellsicht für ein Geschenk der Götter und verehrte den, der diese Gabe besaß. Aber in unseren dunklen Zeiten hält man sie meist für ein Hexenzeichen.«
    Ich starrte ihn entsetzt an. »Meine Tante sagte, es sei eine Vision. Bin ich deswegen hier? Bin ich verflucht?«
    Er lachte auf. »Ich habe schon manches Rätsel gelöst, aber den Beweis, dass ein Fluch wirkt, müsste ich erst noch erbringen. « Er kitzelte mich mit seinem knotigen Finger unter dem Kinn. »Glaubt Ihr denn, dass Ihr böse seid?«
    »Nein. Ich höre täglich die Messe und verehre unsere Heiligen. Aber manchmal habe ich böse Gedanken.«
    »Wie wir alle. Ich versichere Euch, es gibt keinen Fluch. Ich habe Euch Euer Horoskop gestellt, als Ihr zur Welt kamt, und habe dort nichts Böses gefunden.«
    Mein Horoskop? Das hatte meine Tante nie erwähnt.
    »Warum hatte ich denn diese … Vision?«, fragte ich.
    »Nur Gott weiß darauf die Antwort, aber ich warne Euch, es könnte sein, dass es nicht Eure letzte war. Bei manchen treten solche Visionen häufig auf, bei anderen nur in Zeiten der Gefahr. Und bei Euch liegt die Gabe in der Familie. Es heißt, Euer Urgroßvater il Magnifico habe manchmal in die Zukunft sehen können.«
    Das gefiel mir gar nicht. »Und wenn ich es nicht will? Wird es dann aufhören?«
    Seine struppigen Brauen hoben sich. »Die Hellsicht kann nicht abgelehnt werden. Viele würden ihre Seele für das hingeben, was Ihr so leichtfertig von Euch weist.«
    »Habt Ihr denn die Gabe?«, fragte ich, geschmeichelt von der Vorstellung, dass ich etwas so überaus Begehrtes besaß.
    Er seufzte, hob die Augen und blickte sich im Raum um. »Wenn ich sie hätte, würde ich dann all das hier brauchen? Nein, Duchessina. Ich verfüge nur über das Geschick, die Bahnen der Sterne zu erkunden und sie für die Menschen zu deuten. Aber das Firmament ist nicht immer freimütig. › Quod de futuris non est determinata omnino veritas.‹ Die Zukunft betreffend gibt es keine sicher zu bestimmende Wahrheit.«
    Ich überlegte lange, ehe ich sagte: »Ihr könnt meine Gabe haben, wenn Ihr wollt.«
    Er schmunzelte, tätschelte mir die Hand. »Mein Kind, selbst wenn Ihr sie mir geben könntet, würde ich sie niemals beherrschen lernen in der kurzen Zeit, die mir bleibt.« Er hielt inne. »Aber Ihr könnt es lernen.«
    Er senkte die Stimme. »Ich habe lange gelebt und viel gelitten. Bei Eurer Geburt sah ich voraus, dass Ihr noch länger leben würdet. Also werdet auch Ihr leiden. Aber Ihr werdet nie erdulden müssen, was ich zu erdulden hatte, den Schmerz, das ganze Leben lang etwas zu suchen, das man nicht zu fassen kriegt. Euer
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher