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Die Filmerzaehlerin

Die Filmerzaehlerin

Titel: Die Filmerzaehlerin
Autoren: Hernán Rivera Letelier
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und sahen mir mit offenem Mund zu.
    »Dieses Mädchen ist ja eine Künstlerin«, sagte mein Vater, als ich, restlos erschöpft, meine Erzählung beendet hatte.
    Er und meine Brüder waren wie weggetreten.
    Und sie hatten verheulte Augen.
    13
    Diese Erzählung reichte aber noch nicht zum Titelgewinn. Mein Vater erklärte, es stehe unentschieden: mein Bruder Mirto und ich seien die besten gewesen. Und als überzeugter Demokrat meinte er weiter, die Entscheidung müsse an der Urne fallen. Und durch geheime Wahl.
    Mirto würde Kandidat Nummer 1 sein.
    Ich würde Kandidatin Nummer 2 sein.
    Vier gleich große Zettel wurden geschnitten und an die Wahlberechtigten verteilt (die Kandidaten besaßen kein Stimmrecht). Jeder Wahlberechtigte schrieb die Nummer seines Kandidaten auf und steckte den Zettel in eine Papiertüte.
    Dann kam die Auszählung.
    Zwei Stimmen für meinen Bruder und zwei für mich (ich ahnte, dass mein Vater und Marcelino für mich gestimmt hatten). Um die Pattsituation aufzulösen, fand mein Vater die gerechteste und vernünftigste Lösung: Den nächsten Film würden mein Bruder und ich zusammen anschauen. Wer ihn hinterher am besten erzählte, hätte gewonnen.
    Es war dann so weit bei einem mexikanischen Film mit jeder Menge Lieder; er hieß Guitarras de medianoche , und die Hauptrollen spielten keine Geringeren als Miguel Aceves Mejía und Lola Beltrán, deren Stücke in den Schenken der Salpeterarbeiter zu den beliebtesten gehörten. Mein Bruder erzählte den Film zuerst und war witzig wie immer. Vor allem, wenn er den mexikanischen Tonfall nachmachte.
    Aber auch ich beherrschte das Mexikanische recht gut, genügend Ranchera-Filme hatte ich in meinem kurzen Leben ja gesehen, und ich erzählte den Film außerdem nicht nur, beschrieb die Landschaften und alles, sondern ich sang auch auf einmal los – die Lieder aus dem Film hatte ich so oft aus den Kneipenlautsprechern gehört, dass ich sie alle auswendig konnte. Meine Zuhörer hatten mich nie singen gehört, und sie staunten nicht schlecht. Auch weil ich es gut machte.
    Mein Vater war sprachlos. Vor allem als ich No soy monedita de oro sang, ein Lieblingslied von ihm. Da wollte der Demokrat von Wahlen und Volksentscheiden nichts mehr wissen und erklärte mich zur unumstößlichen Siegerin.
    »Das ist mein letztes Wort!«, knurrte er, als Mirto einen leisen Protest anmelden wollte.
    14
    So wurde ich also zur offiziellen Filmerzählerin des Hauses.
    Von diesem Tag an ließ ich das Klickerspielen sein und begleitete auch meine Brüder nicht mehr zum Eidechsenabmurksen in die Salpeterfelder. Stattdessen blieb ich zu Hause, wenn ich nicht ins Kino konnte (weil das Geld fehlte oder meinem Vater die Namen der Hauptdarsteller nichts sagten), übte Stimmenwechsel und vor dem Spiegel verschiedene Gesichtsausdrücke.
    Ich wollte die Filme immer besser erzählen.
    Im Kino achtete ich jetzt auf Details, die den meisten Zuschauern entgingen; kleine Details, durch die ich meinen Erzählungen mehr Farbe geben konnte: wie verrucht sich die blonde Geliebte des Mafioso die Lippen anmalte, wie der Revolverheld fast unmerklich mit dem Augenlid zuckte, ehe er zog, wie sich die Soldaten im Schützengraben die Zigaretten anzündeten, so dass der Feind das Aufflackern des Streichholzes nicht sah.
    Nach einer Weile genügte mir das Nachahmen von Mimik und Stimmen nicht mehr, und ich staffierte mich wie im Theater mit allerlei Zubehör aus. Als Erstes mit den Holzrevolvern meiner Brüder, einem vorsintflutlichen Hut meines Vaters und einem alten Regenschirm, den meine Mutter aus dem Süden mitgebracht und in der Wüste natürlich nie gebraucht hatte.
    Irgendwann stellte ich meine eigenen Requisiten her.
    In der Schule war ich gut in Handarbeit, also nähte ich jetzt Schleier und Turbane für die arabischen Filme, faltete Fächer für die spanischen und bastelte diese ausladenden Sombreros für die mexikanischen. Ich versuchte mich an chinesischen Säbeln, Armeehelmen, Indianerpfeilen und verschiedenen Masken. Meine erste war eine, mit der ich Zorro nachspielte. Den größten Spaß hatte ich allerdings, als ich mir die kleine Melone, den Stock und das Oberlippenbärtchen von Charlie Chaplin zulegte und damit übte: mein Bruder im Geiste.
    Alle Sachen verstaute ich in einer großen Teekiste, die in meiner Reichweite vor der weißen Wand stand.
    15
    Eines der Ärgernisse mit unserem Kino in der Siedlung war, dass ständig der Film riss. Wenn das geschah, war das Geschrei im Saal
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