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Die Filmerzaehlerin

Die Filmerzaehlerin

Titel: Die Filmerzaehlerin
Autoren: Hernán Rivera Letelier
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Mutter übernommen hatte, die mit mir auf dem Schoß keine Folge von Esmeralda, Tochter des Flusses verpasst hatte. Und das dritte war etwas, wovon selbst mein Vater nichts wusste: Als ich klein gewesen war, hatte meine Mutter mir zum Einschlafen Liebesfilme erzählt (die mochte sie besonders gern), und das hatte sie bei keinem meiner Brüder getan.
    »Das ist mehr was für uns Frauen«, hatte sie gesagt und mir verschwörerisch zugezwinkert, was ich liebte.
    11
    Als Erster ging mein Bruder Mariano der Caterpillar ins Kino. Seine Erzählung war ein Desaster. An dem Tag lief ein Kriegsfilm (Deutsche gegen US -Amerikaner), und das Einzige, was man verstand und was der arme Kerl wie geschmiert hinbekam, war das Knattern der Maschinengewehre. Und die Mimik. Die Mimik war eins a. Ich glaube, zu Stummfilmzeiten hätte er es echt gut gemacht.
    Mein Bruder Mirto der Vogel erwischte einen Indianerfilm mit Jack Palance. Er erzählte ihn hervorragend. Das Galoppieren der Pferde, die Schüsse, das Kreischen der Indianer, die Rauchzeichen. Uns war, als hörten wir sogar die Pfeile über unsere Köpfe zischen, zassssss! Einziger Nachteil war, dass Mirto alles mit »Ärschen« und »Scheiße« erzählte:
    »Wie der Arsch die Pistole zieht und ihr den Kopf wegschießt, ist die Kleine angeschissen, weil die anderen Ärsche sich einen Scheiß darum scheren, ob man die da so arschig . . .«
    Manuel war bei einem Vampirfilm an der Reihe und hätte seine Sache nicht schlecht gemacht. Doch wurde ihm die Liebe zum Verhängnis. Mit seinen zwölf Jahren war er in die Tochter des bestsortierten Gemischtwarenladens der Siedlung verliebt (er hatte als Einziger meiner Brüder einen Schwarm) und die eine Stunde vierzig Minuten, die der Film dauerte, musste er die vor Angst kreischende Kleine im Arm halten.
    Das mit meinem Bruder Marcelino war das reinste Pech. Er war ja schon von Natur aus nicht redselig (»diesem Kind muss man jedes Wort mit dem Korkenzieher aus der Nase ziehen«, sagte meine Mutter, als sie noch daheim war) und sah dann Der alte Mann und das Meer , einen Film fast ohne Dialoge.
    Seine Erzählung dauerte keine fünf Minuten.
    Zwei Wochen später war endlich ich an der Reihe, die kleine Schwester, María Margarita, M M, wie mein Vater mich manchmal nannte. Auch wenn ich keinen offiziellen Spitznamen trug, wusste ich doch, dass mich einige Kinder hinter vorgehaltener Hand Machomarie nannten. Sicher kein sonderlich origineller Spitzname, aber wenn Sie genauer hinsehen, können Sie erkennen, dass er aus zwei Wörtern besteht, die mit M anfangen.
    Während der beiden Wochen davor waren etliche gute Filme gelaufen, auch ein paar sehr gute, aber es war kein Geld für die Eintrittskarte im Haus gewesen. Es war Mitte des Monats, und da reichte es knapp fürs Essen und das Fläschchen Rotwein für meinen Vater.
    »Wir müssen warten, bis die Rente da ist«, sagte er. Und dann wurde genau an dem Tag, als es so weit war, im Schaukasten des Kinos Ben Hur angekündigt, der Film, dem die ganze Siedlung entgegenfieberte.
    Meine Brüder drehten durch.
    Alle wollten ins Kino. Oder wenigstens sollte Mirto hingehen, sagten sie, der bis dahin am besten den Film erzählt hatte. Aber mein Vater, der ein gerechter Mann war, lehnte ab.
    »Jetzt ist María Margarita an der Reihe, und María Margarita wird hingehen. Das ist mein letztes Wort.«
    12
    Der Film dauerte drei Stunden. Ich weinte mehr als Sara García, die große alte Dame des mexikanischen Kinos.
    Noch nie hatte mir ein Film so gut gefallen. Später erfuhr ich, dass er nicht nur lang, sondern auch der teuerste Film in der Geschichte des Kinos gewesen war. Und dass er elf Oscars gewonnen hatte. Außerdem war Charlton Heston einer von den Schauspielern, die mir am besten gefielen.
    Ich kam mit geröteten Augen nach Hause. Alle sahen mich erwartungsvoll an. Schweigend trank ich meine Tasse Tee, trat dann vor und begann, ohne dass mir die Knie oder so gezittert hätten, meine Erzählung.
    Da kam etwas über mich.
    Während ich den Film erzählte (gestikulierend, mit den Armen rudernd, die Stimme verändernd), war mir, als würde ich mich aufspalten, zu einer anderen werden, in die Haut jeder Filmfigur schlüpfen. An dem Abend war ich Ben Hur, der Held. Ich war Messala, der Bösewicht. Ich war die beiden leprakranken Frauen, die von Jesus geheilt werden.
    Ich war der leibhaftige Jesus.
    Ich erzählte den Film nicht, ich spielte ihn. Mehr noch: ich lebte ihn. Mein Vater und meine Brüder hörten
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