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Die Filmerzaehlerin

Die Filmerzaehlerin

Titel: Die Filmerzaehlerin
Autoren: Hernán Rivera Letelier
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Leinwand mit Leben und Bewegung.
    Mir war, als schwebte ich in der Luft.
    Es war der Höhepunkt des Zaubers, den das Kino auf mich ausübte. Auf mich und meine Mutter. Heute weiß ich das. Der Unterschied zwischen uns und meinem Vater und meinen Brüdern war, dass das Kino denen nur gefiel. Uns raubte es den Verstand.
    Wenn die Lichter ausgingen, strafften sich alle und reckten den Hals vor der Leinwand. Ich nicht. Ich drehte den Kopf, um zu sehen, wie die Strahlen durch die Fensterchen des Vorführraums flirrten, die Leere über unseren Köpfen durchmaßen, auf die Leinwand trafen und in Bildern und Tönen zerstäubten. Und häufig, wenn der Film nicht so unterhaltsam war, wie ich es mir gewünscht hätte (viel Blabla und wenig Action), schaute ich auf und betrachtete verzückt die staubglitzernde Lichtgarbe über mir. Mir schien es ein Wunder, dass ein Lichtstrahl wie dieser so beeindruckende Dinge transportieren konnte: Eisenbahnen, denen Indianer zu Pferd nachjagten, Piratenschiffe in tosender See oder grüne Drachen, die aus sieben Köpfen Feuer fauchten.
    Damals dachte ich, auch die Stimmen steckten in dem Licht, das Knallen der Schüsse, die anrührenden Lieder der Mariachis in den mexikanischen Filmen. Später lernte ich dann, dass es nicht so war. Wie ich noch vieles andere lernte, manches eher technischer Natur, etwa, dass es vierundzwanzig Einzelbilder pro Sekunde sind, die vor den Augen der Zuschauer ablaufen und die Illusion von Bewegung erzeugen. Ich hatte keine Ahnung, wozu ich diese Sorte Wissen je brauchen würde, aber ich wollte alles über das Kino erfahren. Etwa zu der Zeit entdeckte ich in der Bibliothek der Siedlung die Zeitschrift Ecran und begann sie zu lesen.
    Ich verschlang sie.
    Aber ich will nicht vorgreifen, das war nämlich, nachdem ich zur Filmerzählerin geworden war.
    8
    Wie in jeder Salpetersiedlung in der Wüste, so konnte man auch in unserer an der Behausung gleich erkennen, zu welcher der drei sozialen Klassen die Bewohner gehörten: In den Wellblechhäusern lebten die Arbeiter, in den Häusern aus Lehmziegeln die Angestellten, in den Villen mit Holzveranda die Gringos.
    Unser Haus war ein in drei Räume unterteilter Schuppen aus löchrigem Wellblech. Vorne lag das »Garniturzimmer«, wie die Leute das nannten, obwohl in unserem nie eine Couchgarnitur gestanden hat. Dahinter kam das Schlafzimmer, und noch dahinter die Küche, in der auch gegessen wurde. Ins Schlafzimmer passten genau unsere drei schmiedeeisernen Betten. In dem einen schlief mein Vater, im zweiten schliefen meine drei ältesten Brüder, im dritten mein Bruder Marcelino und ich.
    Ich am Kopfende, er unten.
    Von groß nach klein hießen meine Brüder: Mariano, Mirto, Manuel und Marcelino. Ich heiße María Margarita. Wie Ihnen vielleicht nicht entgangen ist, besaß mein Vater eine Schwäche für Namen, die mit M anfangen. Und zwar, das habe ich ihn einmal sagen hören, seit ihm aufgegangen war, dass nicht nur er Medardo, sondern außerdem seine Mutter Martina hieß und sein Vater Magno.
    Heute glaube ich, dass er meine Mutter bloß wegen ihres Namens geheiratet hat: María Magnolia. Die beiden hatten nämlich überhaupt nichts gemeinsam, waren sich in nichts ähnlich. Wie Essig und Öl. Außerdem war mein Vater fünfundzwanzig Jahre älter als sie.
    »In den Bauerndörfern war das früher so üblich«, hörte ich sie einmal leicht genervt sagen, als eine Nachbarin sich über den Altersunterschied verwunderte.
    9
    Wenn er über die Zauberkraft der Namen mit M sprach, behauptete mein Vater immer, darin liege das Geheimnis der wirklich großen Filmstars. Man müsse sich ja nur Norma Jeane ansehen: Eine kleine Fabrikarbeiterin sei die gewesen, bis sie sich umbenannt habe in Marilyn Monroe. Oder, wenn Sie das umgekehrte Beispiel wünschen: Cantinflas, der größte Filmkomiker der spanischsprachigen Welt, der hat es nur deshalb so weit gebracht, weil er im richtigen Leben Mario Moreno hieß. So einfach ist das. Sie glauben mir nicht? An dieser Stelle legte mein Vater eine Kunstpause ein, sah sein Gegenüber an, wie der Scharfrichter einen Verurteilten ansehen würde, und fuhr dann mit etwas fort, was er irgendwann irgendwo aufgeschnappt hatte, seither für den unumstößlichen Beweis seiner Theorie hielt und als eine Art Totschlagargument gebrauchte:
    »Haben Sie gewusst, mein Lieber?« Er ließ sich jedes Wort auf der Zunge zergehen. »Haben Sie gewusst, dass Mario Moreno zu Beginn, als er noch ein kleiner Zirkusakrobat
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