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Die Filmerzaehlerin

Die Filmerzaehlerin

Titel: Die Filmerzaehlerin
Autoren: Hernán Rivera Letelier
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machte ein Zirkus bei uns Station. Ein ärmlicher Zirkus mit einem Zelt voller Flicken. Unter den Nummern war eine Tänzerin. Jemand kam, um mir zu sagen, die Tänzerin sei meine Mutter. Ich wollte nicht hingehen und sie sehen. Nicht aus Stolz, nicht aus Zorn, sondern aus Mitleid. Ich empfand Mitleid mit ihr wegen ihrer zerbrochenen Träume (zerbrochen wie meine), wegen des armseligen Lebens, das sie in diesem jämmerlichen Zirkus bestimmt führte. Sie muss damals etwa sechsunddreißig gewesen sein. Ich war achtzehn, arbeitete als Packerin im Minenladen und war das Liebchen eines Mannes, der fast vierzig Jahre älter war als ich. Der mich niemals heiraten würde. Der obendrein, wie die Leute raunten, auch der Geliebte meiner Mutter gewesen war.
    Unsere beiden Träume waren wirklich ausgeträumt.
    Deshalb schloss ich mich an dem Abend zu Hause ein und ging nicht hin, um sie zu sehen. Ich hätte es nicht ertragen. Später hörte ich, dass ich gut daran getan hatte, dass die Vorstellung nicht nur schlecht besucht, sondern auch erbärmlich gewesen war.
    Die Leute hätten aus Mitleid geklatscht.
    Als die Clowns (außerdem als Kartenabreißer, Jongleure und Zauberer tätig) nach der Vorstellung das Zelt abbauten, vernahm ich das Geräusch von Absätzen, die über den hölzernen Gehsteig näher kamen und vor der Tür innehielten. Ich begann zu zittern. Dann wurde geklopft. Jetzt konnte kein Zweifel mehr sein. Es war genau die Art, wie meine Mutter klopfte. Ich stemmte mich gegen die Tür und gegen das Verlangen zu öffnen. Auf der anderen Seite hörte ich sie atmen. »Mach auf, Tochter«, sagte sie unter Schluchzen. Ich weinte auch. Wir waren zwei Schiffbrüchige, die sich an dieselbe Planke klammern. Das Haus, die Straße, die Siedlung hörten auf zu existieren. Da waren nur sie und ich zu beiden Seiten einer Tür.
    Nur sie und ich zu beiden Seiten der Welt.
    Nach einer Weile wurde sie des Klopfens müde, und ich hörte, wie das Geräusch ihrer Absätze sich entfernte. Während etwas in mir ihr nachlaufen wollte, hielt meine Hand die Klinke weiter umklammert. Drei Tage weinte ich ohne Unterlass.
    Als ich später von ihrem Tod erfuhr, vergoss ich nicht eine Träne. Es war, als hätte ich diesen Film schon zweimal gesehen.
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