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Die Filmerzaehlerin

Die Filmerzaehlerin

Titel: Die Filmerzaehlerin
Autoren: Hernán Rivera Letelier
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konnte. Ich wollte ihn nicht noch mehr leiden sehen. Der arme alte Mann war eingenickt, sein Kopf schlaff auf die Brust gesunken. Meine Brüder hatten ihn da hingesetzt, mit seiner Weinflasche als Gesellschaft. Eine Weile betrachtete ich ihn, wie er so zusammengesackt in seinem Sessel mit den Rädern kauerte, unbrauchbar von der Hüfte abwärts. Mit einem Mal begriff ich jäh und auf dunkle Weise den eigentlichen Grund, weshalb meine Mutter ihn verlassen hatte.
    Ich erinnerte mich außerdem, dass der Himmel an dem Tag, als sie gegangen war, bewölkt gewesen war.
    30
    Am Abend ging ich wie immer ins Kino. Danach erzählte ich zu Hause den Film schnell und ohne Begeisterung. Ich sagte, ich hätte Kopfweh. Zum Glück waren fast nur Kinder da, und es kamen nur wenig Beschwerden. Hinterher nahm ich meinen ältesten Bruder mit in den Hof und erzählte ihm, auf einem Holzbalken sitzend, was geschehen war.
    Zu meinem eigenen Erstaunen erzählte ich es ihm, ohne zu weinen. Ich war von einer eigentümlichen Ruhe erfüllt, sie hielt mich wie in der Schwebe. Er hörte sich alles schweigend an.
    Ohne ein einziges Wort.
    Fast ohne einen Lidschlag.
    Am Ende hatte ich (von einem vagen Schuldgefühl erfasst) den Eindruck, ich hätte es ihm besser nicht erzählt.
    31
    Zwei Wochen später fand man an einem Donnerstagmorgen (Zahltag) den Geldverleiher tot in seinem Pförtnerhäuschen. Er lag ausgestreckt auf den mit Petroleum gescheuerten Dielen, die verpfändeten Lohnstreifen waren über seinem Leichnam verstreut. Er war mit einem Schaufelstiel erschlagen worden.
    Die vier Polizisten, aus denen die örtliche Wache bestand (alle vier dick und schwammig vom Nichtstun), bekamen endlich etwas Abwechslung. Außer dass sie Hunde vergifteten und mit im Rücken verschränkten Händen verdrossen die Straßen abschritten, bestand ihre Polizeiarbeit darin, jedes Wochenende ein paar harmlose Säufer einzubuchten, die ihnen dann die Wache ausfegen und den Polizeipferden das Hinterteil säubern durften.
    Der erste Verdacht fiel auf die Eigentümer der verpfändeten Lohnstreifen. Die Polizisten nahmen sie einzeln in die Mangel, allen voran die beiden, deren Ehefrauen (das ganze Minendorf wusste davon) nachts ins Haus des Geldverleihers hatten einsteigen wollen, um die Streifen an sich zu bringen.
    Aber alle besaßen eine blütenweiße Weste.
    Da über Angehörige des Toten nichts bekannt war, hatten die Bewohner der Siedlung die Angelegenheit nach kurzer Zeit vergessen, und niemand störte sich daran, dass der Mord ohne Aufklärung blieb. Im Gegenteil, viele konnten sich das Grinsen nicht verkneifen, schließlich galten alle Schulden jetzt als getilgt. Angeblich strahlten selbst die Polizisten von einem Ohr zum anderen. Auch denen hatte Don Nolasco mit seinen Krediten die Luft abgeschnürt.
    Außerdem wurde dieser Tage im Kino der Film Die zehn Gebote angekündigt.
    Er war einziges Gesprächsthema.
    32
    Die Zeit verging langsam und gemächlich, wie sie wahrscheinlich in allen Wüsten der Welt vergeht. Ich würde bald dreizehn Jahre alt sein, trug Minirock (kürzlich von einer Mary Queen oder so erfunden) und erzählte weiter meine Filme.
    Mein Publikum wuchs beständig.
    Es gab Kinder, die kriegten von ihren Eltern Geld fürs Kino, kamen aber lieber zu mir nach Hause, spendeten das Unabdingbare und kauften sich für den Rest Süßigkeiten. Und viele Erwachsene, die nicht lesen und schreiben konnten, ließen sich den Film, wenn er »mit Buchstaben« war, lieber von mir erzählen, als ins Kino zu gehen und nichts zu verstehen. Außerdem, stellte ich fest, gab es Leute, die nicht deshalb zu mir kamen, weil sie sich den Kinoeintritt nicht leisten konnten, sondern weil es ihnen tatsächlich besser gefiel, wenn man ihnen die Filme erzählte.
    Einige behaupteten, ich träfe die Figuren so gut, ich bräuchte bloß einmal zu zwinkern und würde vom artigen Schneewittchen zum wilden Metro-Goldwyn-Mayer-Löwen. Und wenn man mir zuhörte, sei das, als lauschte man einem der Radiohörspiele, die täglich aus der Hauptstadt gesendet wurden, schließlich würde ich nicht nur die Stimmen und Gesichter nachahmen, sondern wisse auch, wie man das Publikum in Atem hält.
    Zu der Zeit wurde mir klar, dass sich alle Leute gern Geschichten erzählen lassen. Für eine Weile möchten sie der Wirklichkeit entkommen und in der erdachten Welt von Filmen, Hörspielen oder Romanen leben. Man darf ihnen auch gern Lügen erzählen, wenn die Lügen gut erzählt sind. Deshalb sind
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