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Die Filmerzaehlerin

Die Filmerzaehlerin

Titel: Die Filmerzaehlerin
Autoren: Hernán Rivera Letelier
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dann schlug; er war kein schlechter Kerl.
    Er hat mir sogar einen Fernseher geschenkt.
    Im Grunde war er einsam und rührselig. Er litt sehr darunter, dass er keine Kinder zeugen konnte. Irgendwie sah er sich wie mein Vater: von der Hüfte abwärts unbrauchbar.
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    Danach, das weiß man ja, kam die Schließung. Alle gingen fort.
    Sie weinten, als sie gingen.
    Ich blieb. Blieb allein. Ich hätte nicht gewusst, wohin oder mit wem ich hätte gehen sollen.
    Von meinem Bruder Mirto, der mit der Witwe durchgebrannt war, hörte ich nie wieder etwas. So wenig wie von Manuel, dem Fußballer; nie fiel sein Name im Zusammenhang mit einem der Clubs in der Hauptstadt. Jemand sagte mir mal, man habe ihn betrunken in einem Bordell in Valparaíso gesehen.
    Und Mariano ist weiter im Gefängnis. Kurz bevor er seine Strafe wegen des Geldverleihers abgesessen hatte, geriet er mit einem anderen Häftling aneinander und brachte ihn um. Er selbst wurde verletzt. Er bekam noch einmal ein paar Jahre. Nur zweimal konnte ich ihn besuchen.
    Er bat mich, nicht mehr zu kommen.
    Es tue ihm nicht gut.
    Mir tat es auch nicht gut. In seinem Mienenspiel sah ich das Mienenspiel der Filmbösewichte (er spuckte die Wörter beim Sprechen durch die Eckzähne). Außerdem stotterte er nicht mehr, seit er den Geldverleiher totgeschlagen hatte. Und das löste in mir irgendwie ein Entsetzen aus.
    Bei meinem letzten Besuch brachte ich ihm die Nachricht vom Tod unserer Mutter.
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    Wahrscheinlich bin ich die einzige Frau, die allein in einem Geisterdorf lebt. Ich führe hier Leute herum. Bei mir kann man Broschüren über die Geschichte des Salpeters kaufen, man kann alte Fotos kaufen, alte Nummern der Ecran , Puppen aus Stoffresten, kleine Laster aus Dosenblech, Dinge, die ich bei meinen Streifzügen durch die verlassenen Häuser finde.
    Manche Leute, die herkommen, um die Reste der Salpetersiedlung zu sehen, fragen mich entgeistert, wie wir in dieser Ödnis leben konnten.
    Die Gegend wirkt in ihren Augen kaum besser als ein Vorhof zur Hölle.
    Ich entgegne ihnen stolz, dass sie für uns das Paradies gewesen ist. Ich erzähle ihnen von unserem Leben in der Siedlung. Dass hier niemand Hunger leiden musste. Wir einander geholfen haben. Man nachts bei offener Tür schlafen konnte und nichts passiert ist. Die Besucher hören mir ungläubig zu. Einige so, als täte ich ihnen leid. Andere reden mit mir, als verklärte ich alles. Hätte einen Hang zur Romantik. Zum Kitsch.
    Viele halten mich für verrückt.
    Mich kümmert das nicht. Im Gegenteil, wenn ich mich besonders inspiriert fühle, dann bringe ich sie hierher ins Haus (oder in das, was davon übrig ist), in das Haus, in dem ich ein Leben lang gewohnt habe. Hier erzähle ich ihnen die Geschichte von dem Mädchen, das Filme erzählte. Sie hören mir staunend zu. Vor allem die Jüngeren; wegen all der Technik heutzutage können sie sich eine Filmerzählerin kaum vorstellen.
    Wenn sie gegen Abend in ihre Karossen steigen und zurück in ihre Städte fahren, werde ich wieder zu dem, was ich bin: der Spuk in einem verlassenen Dorf.
    Oder womöglich eine Salzsäule?
    Ich steige dann auf den Kirchturm und betrachte den Horizont. Jeder Sonnenuntergang ist wie die Panoramaeinstellung am Ende eines alten Films, eines Films in Technicolor und Cinemascope (das Geräusch des Windes, der am Wellblech zerrt, ist die Filmmusik dazu). Ein Film, der Tag für Tag wiederholt wird. Mal traurig, mal weniger traurig.
    Aber der Schluss ist immer gleich:
    Ganz hinten vor dem weiten, dunkler werdenden Hintergrund sehe ich, wie mein Vater in seinem Sessel mit den Rädern kleiner wird, ich sehe meine Brüder einen nach dem anderen verschwinden, meine Mutter mit ihren im Wind flatternden Seidentüchern. Ich sehe sie fortgehen, wie die Bewohner der Siedlung fortgegangen sind, sehe, dass sie am Horizont verblassen wie Trugbilder, während die Musik nach und nach leiser wird und über ihren Silhouetten entschieden und unausweichlich das Wort erscheint, das kein Mensch in seinem Leben lesen möchte:
    ENDE
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    Auch wenn Sie jetzt wissen, wie die Geschichte ausgeht, gibt es etwas über meine Mutter, das ich nicht erzählt habe. Das zu erzählen mich traurig macht.
    Heute werde ich es trotzdem tun.
    Denken Sie einfach, der Vorführer hätte (wie es im Kino der Siedlung manchmal geschah) die Filmrollen vertauscht und würde die Mitte des Films am Ende zeigen.
    An einem Wintertag zu der Zeit, als ich die offizielle Geliebte des Herrn Verwalters war,
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