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Die Filmerzaehlerin

Die Filmerzaehlerin

Titel: Die Filmerzaehlerin
Autoren: Hernán Rivera Letelier
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überhebliche Lache und die unglaublichen Grimassen von Jerry Lewis. Bei mir lachten sie Tränen, wenn ich mich an Marilyn Monroes Augenaufschlag versuchte oder an der (ziemlich reich gesegneten) kindlichen Unschuld von Brigitte Bardot.
    5
    Der eine oder andere wird sich schon gefragt haben, wieso mein Vater nicht selber ins Kino ging und sich die Filme ansah. Wenigstens die mexikanischen. Mein Vater konnte nicht gehen. Er hatte einen Arbeitsunfall gehabt und war von der Hüfte abwärts gelähmt. Jetzt arbeitete er nicht mehr. Er bekam eine jämmerliche Invalidenrente, die mit Ach und Krach fürs Essen reichte.
    Einen Rollstuhl zu kaufen, daran war nicht zu denken. Um ihn vom Esstisch ins Schlafzimmer oder vom Esstisch vor die Tür zu befördern (wo er gern seine Flasche Rotwein trank und zusah, wie der Tag und seine Bekannten vorbeigingen), hatten meine Brüder die Räder eines alten Dreirads an den Sessel montiert. Das Dreirad war das erste Ostergeschenk meines ältesten Bruders gewesen, und die Räder hielten dem Gewicht meines Vaters nicht lange stand, sie knickten seitlich weg, und man musste sie dauernd richten.
    Und meine Mutter? Nun, meine Mutter hatte meinen Vater nach dem Unfall sitzenlassen. Ihn und uns, ihre fünf Kinder. Einfach so, paff ! Deshalb hatte mein Vater uns verboten, dass wir sie zu Hause erwähnten. Den »Feger«, wie er sie abschätzig nannte.
    »Kein Wort über diesen Feger«, sagte er, wenn einem von uns das Wort »Mama« herausrutschte.
    Dann verfiel er in ein Schweigen, aus dem man ihn für Stunden nicht mehr rausholen konnte.
    6
    Ich weiß noch, wie wir, als meine Mutter noch bei uns war (vor dem Unglück) und wir eine vollständige Familie waren und mein Vater arbeitete (und nicht so viel trank) und sie ihn nach der Arbeit mit einem Kuss begrüßte, wie wir da am Wochenende alle sieben zusammen ins Kino gegangen sind.
    Wie habe ich dieses Ritual geliebt: sich fürs Kino zurechtmachen!
    »Heute läuft einer mit Audie Murphy«, verkündete mein Vater beim Heimkommen – zu der Zeit waren es die Stars, die den Filmen Klasse verliehen. Also zogen wir unsere besten Sachen an. Sogar Schuhe. Meine Mutter kämmte alle meine Brüder. Sie zog ihnen einen Scheitel wie mit dem Lineal und klatschte ihnen die Haare mit Zitronensaft an. Allen außer Marcelino, meinem vierten Bruder, der Haare hatte wie ein Pferd und den man kämmen konnte, wie man wollte, sein Kopf sah immer aus wie ein aufgeschlagenes Buch. Mir machte sie einen Pferdeschwanz, mit schwarzen Gummis festgezurrt, dass mir die Augen fast aus dem Kopf quollen.
    Wir besuchten immer die frühe Abendvorstellung.
    Das gefiel mir, weil der Sonnenuntergang für mich die schönste Stunde in der Wüste war. Die letzten Sonnenstrahlen malten den Rost der Wellblechhäuser golden an, und die Farben der Dämmerung passten gut zu den Seidentüchern, die meine Mutter trug.
    Sie liebte Seidentücher.
    Wie alle anderen hier gingen auch wir mitten auf der staubigen Straße durch die Siedlung, der untergehenden Sonne entgegen. Mein Papa, der Mama am Arm führte, wurde von allen Männern, die vorbeikamen, gegrüßt.
    »Guten Abend, verehrter Castillo!«
    »'n Abend, Don Sowieso!«
    Mir fiel auf, dass sie ihn grüßten, dabei aber meine Mutter ansahen. Weil sie nämlich sehr schön war und jung und sich beim Gehen in den Hüften wiegte wie ein Filmstar.
    Wenn wir an der Ecke beim Kino ankamen, hörten wir die Musik aus den alten Lautsprechern, und das Herz ging uns vor Freude über. Vor dem Saal standen Handkarren mit Süßigkeiten. Meine Mutter kaufte Liebesperlen für sich und Papa und für jeden von uns eine Tüte süßes Popcorn.
    Wir betraten fast immer als Erste den Saal.
    7
    Wir waren nicht wie die anderen, die draußen blieben, bis der Marsch erklang und den Beginn der Vorstellung ankündigte, und die dann als Horde in den Saal drängten. Wir kamen gern früh und warteten drinnen auf den Film.
    Gebannt saß ich im Bauch des halbdunklen Kinoschiffs, in einer Art Höhle, rätselhaft, geheimnisumwittert, ewig unerforscht. Mit dem Schritt durch den schweren Samtvorhang war mir, als träte ich aus der rauen Wirklichkeit in eine verwunschene Zauberwelt ein.
    Wir setzten uns in die erste Reihe, fast mit der Nase vor die gewaltige weiße Fläche, zu der ich aufsah wie zum Hochaltar einer Kirche. Die Spannung steigerte sich bis zu dem wunderbaren Moment, wenn die Lichter erloschen, die Tür sich schloss, die Musik verstummte. Und dann füllte sich die
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