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Die Filmerzaehlerin

Die Filmerzaehlerin

Titel: Die Filmerzaehlerin
Autoren: Hernán Rivera Letelier
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groß. Das Publikum pfiff und trampelte, der Lärm war ohrenbetäubend, man schimpfte auf den alten Filmvorführer, und der war seinerseits nicht aufs Maul gefallen und als Wüterich bekannt und spuckte Gift und Galle über den veralteten Projektor.
    »Beschwert euch beim Spaniel, ihr Vollidioten!«, schrie er zornig durch die Fensterchen des Vorführraums. Der Spaniel war der Betreiber des Kinos, der außerdem einen Kleiderladen besaß, das Schlachthaus verwaltete und aus Spanien kam.
    Am Ende waren nur wir Zuschauer die Dummen, weil beim Kleben des Films immer und unweigerlich einige Szenen unter den Tisch fielen. Was mir aber nicht viel ausmachte. Zu Hause hatte ich keine Mühe, mir vorzustellen oder zu erfinden, was dem Film abhandengekommen war.
    Auch geschah es häufiger, dass der krumme Kurbler, wie sie den Vorführer nannten, die Filmrollen vertauschte (vor allem, wenn er zu tief ins Glas geschaut hatte) und wir das Ende des Films in der Mitte sahen.
    Oder den Anfang am Ende.
    Oder die Mitte am Anfang.
    Ein einziges Schlamassel, und keiner blickte mehr durch.
    Wenn das geschah, war die Sache zwar etwas vertrackter, aber richtig viel Mühe kostete es mich auch dann nicht, die Geschichte in meinem Kopf zu sortieren und sie von vorne nach hinten zu erzählen, wie es sich gehört.
    Ich glaube, ich war im Grunde einfallsreich wie eine Klatschbase, ich brauchte nämlich nur zwei oder drei Fotos im Schaukasten zu sehen (den lasziven Blick des Priesters, die Unschuldsmiene des Mädchens, das verschwörerische Lächeln der Betschwester), und schon konnte ich eine Handlung erfinden, mir eine vollständige Geschichte dazu denken und meinen eigenen Film ablaufen lassen.
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    Meine Gabe beruhte allerdings nicht allein auf der ausufernden Phantasie, die ich mein eigen nannte. Oder auf meinem guten Gedächtnis. Oder auf den Erzählschnörkeln, die ich von meiner Mutter und den kratzstimmigen Sprechern der Radiohörspiele gelernt hatte. (Ich sagte nicht: »Dann hat er sie auf den Mund geküsst«, sondern kostete es ein bisschen aus: »Da löschte er seine Zigarette, sah ihr tief in die Augen, legte seinen starken Arm um sie und drückte seine Lippen auf ihre.«) Nichts von alldem war so wichtig wie Konzentration.
    Konzentration war das A und O.
    Und meine Fähigkeit zur Konzentration hatte noch jede Feuerprobe bestanden. Dass die Leute ins Kino gingen, um sich zu unterhalten. Dass Kleinkinder brüllten. Dass einen die etwas größeren von hinten auf den Kopf hauten. Vor allem aber, dass die älteren und versauten Jungs nicht ins Kino gingen, um den Film zu sehen, sondern um Mädchen an Land zu ziehen.
    Für die war das eine Art Sport. Wenn eine es nicht mit sich machen ließ, war sie eine »Zicke«, und sie wechselten zur nächsten. Sie setzten sich neben eine, die allein war, und schoben langsam ihre Hand über ihre. Dann probierten sie, den Arm um sie zu legen. Sie zu küssen. War das Mädchen besonders draufgängerisch oder eingeschüchtert, trauten sich manche sogar, ihren Busen zu kneten. Oder steckten ihr die Hand zwischen die Beine. (Einmal hat einer von den Größeren – angeblich wegen einer Wette – einem Mädchen das rosa Höschen ausgezogen, hat es triumphierend über seinem Kopf geschwenkt und es dann hochgeworfen, und weil der Film sterbenslangweilig war, warfen die Zuschauer es sich unter großem Hallo hin und her.)
    Ich ließ keinen ran.
    Auch wenn sie sagten, ich solle mich nicht so haben, man wisse ja schließlich. War mir piepegal. Okay, ich hatte trotz meines zarten Alters schon mit den Freunden meiner Brüder Papa- und Mamaspielchen gemacht. Aber ins Kino ging ich, um den Film zu sehen.
    Und dabei durfte mich nichts ablenken.
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    Was mich allerdings in die Bredouille brachte (und nicht zu knapp), waren Filme, in denen eheliche Untreue vorkam. Bei denen musste ich meine gesamte Fabulierkunst aufwenden und die Handlung ändern, damit ich meinem Vater nicht weh tat.
    Obwohl die Flucht meiner Mutter schon zwei Jahre zurücklag, sickerte aus der Wunde weiterhin Blut, wie er sagte, wenn er sich betrank. Deshalb durften wir sie nicht erwähnen und mussten auch sonst jedes Wort und überhaupt alles vermeiden, was ihn an sie erinnerte; wenn das nämlich geschah, dann schloss sich der Ärmste im Schlafzimmer ein und weinte lautlos und bitterlich.
    Wie an dem Tag, als ich aus einem spanischen Film kam und mir für die Darstellung der Flamencotänzerin nichts Besseres einfiel, als eins von den Kleidern
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