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Die Filmerzaehlerin

Die Filmerzaehlerin

Titel: Die Filmerzaehlerin
Autoren: Hernán Rivera Letelier
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die Filme gebrechlichen Alten erzählen, die selbst nicht mehr ins Kino gehen konnten. Schwierig wurde es, wenn sie sich sehr alte Filme von mir wünschten oder welche, die ich nicht gesehen hatte. Waren die Filme nur ein wenig älter, war das kein Problem: Mit dem bisschen, an das ich mich erinnerte, und dem vielen, was ich dazuerfand, konnte ich mich gut aus der Affäre ziehen. Ein einziges Mal getraute ich mich, einen Film zu erzählen, den ich nicht gesehen hatte. Das war, als mich Doña Filiberta zu sich rief, die Besitzerin des einzigen Süßwarenladens der Siedlung.
    Die alte Dame, die angeblich ein bisschen verrückt war, lag im Sterben und wollte, dass ich ihr einen alten »movie« (sie sagte wirklich »movie«) mit Libertad Lamarque erzählte. Der Film hieß Besos brujos , und Doña Filiberta schwärmte mit ins Weiße verdrehten Augen, er bringe ihr die Erinnerung an eine unvergessliche Liebe zurück. Weiter erzählte sie, am eindrücklichsten sei ihr eine Szene in Erinnerung, in der die Lamarque in den blauen Wassern eines schönen Sees badete (obwohl die Filme damals schwarzweiß waren, sagte sie »blaue Wasser«) und dazu ein wundervolles Lied sang, das Como un pajarito hieß.
    »Hast du ihn gesehen, Kindchen?«, wollte sie wissen.
    Ich log sie an, sagte ja, ich könne mich aber nicht so gut daran erinnern. Ich sei noch sehr klein gewesen. Wenn sie meinem Gedächtnis aber ein bisschen auf die Sprünge helfen würde . . . Die alte Dame gab mir nicht nur eine lange Zusammenfassung mit vielfältigen Details zu Kostümen und Landschaften, sondern sang mir auch wie ein Vögelchen das komplette Lied vor. Aus alldem hatte ich in Windeseile eine Geschichte zusammengebastelt und erzählte ihr den Film, bis sie eingeschlafen war.
    Doña Filiberta, schon zweiundneunzig Jahre alt und dreimal verwitwet, starb, zwei Tage nachdem ich bei ihr zu Hause gewesen war. Im Kreis der Trauergäste erzählten ihre Angehörigen nach der Beerdigung, Großmama Fili, wie sie sie nannten, habe gesagt, der Film, den das Kindchen ihr erzählt habe, hätte dem, den sie einst gesehen hatte, geglichen »wie der Ochs dem Esel«, aber er habe ihr trotzdem sehr gut gefallen. Sogar besser als der andere.
    »Der andere hat ja nur eineinviertel Stunden gedauert«, hatte sie lächelnd gesagt. »Und dieses Mädchen hat mir einen von fast zwei Stunden erzählt.«
    Die Hinterbliebenen sagten, sie sei glücklich gestorben.
    27
    Die Hausbestellungen erledigte ich nach dem Mittagessen, weil ich ja vormittags zur Schule ging und am frühen Abend ins Kino musste. Mal maulend, mal zeternd halfen mir meine Brüder auf Drängen meines Vaters abwechselnd mit der schweren Teekiste. Sie brachten mich zu dem Haus, wohin man mich bestellt hatte, und gingen spielen. Wir verabredeten, dass sie mich nach einer Stunde wieder abholten; eine Stunde dauerte es im Schnitt, bis ich meinen Film erzählt hatte. Aber ihr Spielen dauerte immer länger, und ich musste sehen, wie ich alleine klarkam. So ähnlich war es auch an dem bewölkten Tag, als ich dem Geldverleiher der Siedlung einen Cowboyfilm erzählen sollte.
    28
    Unsere Siedlung war eine der ärmsten im Bezirk. Die Leute hatten an den langen Abenden in der Einöde nichts zur sehen und nichts zu tun. Es gab kein Tanzlokal, wo man hätte hingehen können, kein Orchester, das an den Wochenenden im Pavillon am Platz aufgespielt hätte. Wir hatten nicht mal einen Zugtag, wie er in den Salpetersiedlungen an der Bahnlinie immer Anlass zum Feiern gab.
    Uns blieb allein das Lichtspielhaus.
    Aber der Lohn reichte nicht immer für die Eintrittskarte. Alle Welt lebte auf Pump, und um schon vor dem Zahltag an etwas Geld zu kommen, versetzten die meisten ihren Lohnstreifen beim Geldverleiher.
    Don Nolasco hieß der Geldverleiher.
    Er war ein langer, knochiger Kerl, menschenscheu wie ein Wüstenhund. Mit den Jahren war er zum meistgehassten Mann der Siedlung geworden. Nicht nur wegen seiner Wuchergeschäfte, sondern weil er außerdem als Aufpasser im einzigen Schlafhaus für Unverheiratete arbeitete. Dort hatte er ein Auge darauf, dass die Männer weder Schnaps noch Frauen mit in ihre Kojen nahmen. Und darin war Don Nolasco genauso unerbittlich wie beim Eintreiben von Schulden.
    Nichts entging seinen großen Eulenaugen.
    Am Zahltag (immer Donnerstag) sah man oft die Frauen der Arbeiter, wie sie Don Nolasco beknieten, dass er sie doch bitte die Hälfte jetzt, die andere Hälfte nächste Woche bezahlen lassen solle, ob das denn
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