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Die Erdfresserin

Die Erdfresserin

Titel: Die Erdfresserin
Autoren: Julya Rabinowich
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dass sie ihr Bett schon wieder verlassen will, ihre Hände auf den Kofferdeckeln, die zwischen unseren Betten stehen, sie ist schwach, ihre Plastiknägel kratzen die Plastikfläche entlang.
    »Ich muss auf die Toilette«, sagt sie.
    »Ich bring dir was«, sage ich. »Bleib liegen.«
    Sie will mich abwehren, ich stoße sie zurück ins Bett. Der Gang ist eiskalt. Das Klo ist eiskalt. Das Fenster zerbrochen, der Wind pfeift hinein.
    »Du bleibst jetzt liegen«, sage ich noch einmal und gebe ihr unseren zweiten großen Topf.
    Nastja wird rot. Ich finde das lächerlich, bei allem, was wir gemeinsam erlebt haben, bei allem, was wir bis jetzt zu geben bereit waren, ist das schlichtweg lächerlich. Sie sitzt da mit dem Topf zwischen ihren knochigen Knien, die Beulen in die geringelten Leggings geleiert haben, mit den dicken bunten Socken, die meine Schwester für mich gestrickt hat. Sie wirkt wie ein Kind, wenn man ihr Gesicht außer Acht lässt. Ich empfinde plötzlich Mitleid mit ihr, mit ihren schmalen Füßen, die in die Wolle unserer Heimat gehüllt auf fremdem Boden stehen müssen, mit einem Wiener Emailtopf in Braun dazwischen, den Deckel hält sie wie einen Schild in der Hand, ein Krieger, der heute keine Schlacht mehr schlagen wird, und es ist sehr fraglich, ob morgen eine stattfinden kann.
    »Nimm ein Buch und leg dich hin«, sage ich.
    »Ich habe Kopfschmerzen.«
    »Dann schlaf.«
    Ich gieße das heiße Wasser in eine große Tasse, werfe den Beutel mit dem Kamillentee hinein, Lindenblüten und Honig wären besser gewesen, aber im Supermarkt gab es nur Kamille im Angebot, und der Honig war schon aufgebraucht, ich nehme die Tasse und stelle sie neben ihr Bett, sie will meine Hand streicheln, und ich entziehe sie ihr wieder, ich bin plötzlich wütend über ihre Rücksichtslosigkeit.
    »Fass mich nicht an«, fauche ich, »wie kannst du so derartig egomanisch sein! Wenn ich auch krank werde, fliegen wir raus. Ins Bett mit dir!«
    Sie legt sich gehorsam wieder hin, ohne den Topf zu benützen, ich weiß, dass sie nun unter der Decke die Schenkel zusammenkneift, hier kann sie es sich leisten, hier sind wir zu Hause.
    »Ich will so gerne wieder die Ophelia sein«, jammert Nastja. »Die Ophelia war meine beste Rolle bis jetzt, die wichtigste, die größte.«
    Ich kenne diese Geschichte auswendig, gleich wird sie beginnen, sie von vorne zu entspinnen, immer gleiche Erzählsprünge, sie erzählt sie so, wie die alten Frauen im Winter Märchen erzählen, oder Dorfmythen, langsam, mit Pathos, und seien sie noch so bedeutungslos, und handle es sich nur um den Schweinehirten, damals jung und hübsch, der zwei Schweine wieder heil aus dem Wald brachte, die einzigen Schweine, die das Dorf damals besaß, es war Krieg, und die Schweine waren Gold, waren Überleben, waren alles.
    Das Licht, das um seinen Kopf schien, Abendlicht gegen Abendwald, sagen sie, wirkte wie ein Heiligenschein, der Heiland selbst sei herabgestiegen, um das Dorf zu retten. Dass es eine Woche darauf geplündert und gebrandschatzt wurde, lassen sie meistens aus. Es ist nicht angenehm, hässliche Dinge aufzubewahren, das tun die hässlichen Dinge ganz von selbst, sie drücken sich ungefragt in unsere Erinnerung wie heiße Brandsiegel, unauslöschlich. Mit der Zeit geraten sie aus der Form, wie alte Narben, während die Haut des Bewusstseins noch wächst, an Spannkraft verliert, an Formen, die sie halten sollte, unmerklich ändern sich die Bilder, ändern sich die Geschichten, ändern sich die Menschen, bis sie sich ganz verloren haben und in ihren erdigen Betten angekommen sind.
    Nastjas Stimme wird höher, mädchenhafter, sie sieht sich bestimmt wieder in einem schlichten langen weißen Kleid und mit Plastiklilien im Haar auf der Bühne. Zwanzig Jahre alt, gerade fertig geworden und schon besetzt. Einer Hauptrolle würdig erachtet, nicht in der Peripherie eines Dörfchens, sondern mitten in einer richtigen Stadt, kein großes Theater, aber immerhin. Meine Bemühungen, meine Vermittlung, das wird gerne aus der Geschichte ausgeblendet, früher habe ich auf den Zusatz in unserer Sage bestanden, wie ein kleines Kind penibel auf den immer gleichen Ablauf des vorgelesenen Märchens besteht, unvollständig ist es nicht dasselbe Märchen, nicht dasselbe Ritual, und niemand kann danach entspannt die Augen schließen, seine Wange in den Polster und die Augen fest zudrücken.
    »Bist eh die Ophelia«, sage ich. »Für ewig.«
    Dieses E-Book wurde von der "Verlagsgruppe
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